Hellrot. Weiter draußen sieht die Sache schon anders aus. Im Vierten oder Fünften läuft das Aerometer jeden Tag bis lila und manchmal leuchtet es sogar schwarz.“
Mir wurde ganz schwindelig. Jedes Kind wusste, dass die Luft in den Industrie-Ringen mies war, aber nicht, dass man nur während der Arbeitszeit brauchbare Atemluft bekam.
„Eure Schicht beginnt morgen früh um 6 Uhr. Ihr fangt bei der Entgratung an. Meldet euch in der Halle bei Lenket, meinem Produktionsleiter. Fragen?“
Ropex und Amali schüttelten ihre Köpfe. Ich hatte keine Ahnung, was Entgratung war. Direktor Bo stand auf und wollte gehen. Doch ehe er die Türklinke berührte, zuckte er zurück. „Jetzt hätte ich es beinahe vergessen. Ihr müsst eure Arbeitsverträge noch unterschreiben.“ Aus einer Schublade zog er drei geheftete Stapel Papier. Er strich sie vorsichtig glatt, als wären sie kostbar. Jedem von uns drückte er einen Arbeitsvertrag in die Hand. „Bitte, auf der letzten Seite unterschreiben.“
Direktor Bo zog einen dunkelblau marmorierten Kugelschreiber aus der Sakkotasche und gab ihn mir. Ich unterschrieb mit krakeligen Buchstaben: Kalana Zookie. Dann reichte ich den Stift an Ropex weiter. Aber statt zu unterschreiben, begann Ropex den Vertrag zu lesen – von Seite eins, ganz vorne.
Ungeduldig trommelte Direktor Bo mit den Fingern auf den Tisch. Sein mächtiger Körper bebte. „Unterschreibt! Meine Zeit ist knapp.“
„Ich wollte nur …“, sagte Ropex.
Nach einem ungeduldigen Blick von Direktor Bo drehte Ropex den Vertrag um und unterschrieb auf der letzten Seite. Und Amali konnte es nicht schnell genug gehen, auch unterschreiben zu dürfen.
Direktor Bo zückte seinen Kommunikator: „Frau Gaschel, hier sind drei Neue. Bringen Sie sie in die Schlafsäle.“
Und dann wandte er sich noch einmal an uns: „Ich erwarte, dass ihr alles gebt. Wer sein Plansoll nicht erreicht, der fliegt. Habt ihr mich verstanden?“
Amali und ich nickten. Selbst Ropex murmelte etwas, das nach Zustimmung klang. Direktor Bo verließ grußlos den Raum.
Es dauerte nicht lange, bis eine grobschlächtige Frau kam, die mich an einen Ackergaul erinnerte. Ohne sich vorzustellen, brummte sie mit einer Reibeisenstimme: „Mitkommen!“
Ich fühlte mich, als würden wir abgeführt.
„Die Betten in den Schlafsälen sind mehrfach belegt. Ihr dürft die Schlafsäle nur während der zugewiesenen Zeiten betreten. Männer und Frauen schlafen in getrennten Räumen. Besuche sind absolut verboten“, knurrte Frau Gaschel, ohne sich umzudrehen. „Wer gegen die Schlafsaalverordnung verstößt wird ohne Warnung fristlos entlassen.“
Sirrende Neonröhren leuchteten die langgezogenen Gänge gleißend hell aus.
„Frauenschlafsaal“, sagte sie irgendwann und öffnete eine schwere Metalltür. Sie sah mich an. „Du schläfst in Bett 121. Die andere bekommt das Bett über dir, Nummer 122. Checkt euch ein und verlasst es morgen früh genauso wie ihr es vorgefunden habt.“
Die Tür fiel hinter uns zu. Der Schlafsaal war eine fensterlose Halle. Links und rechts vom Mittelgang reihte sich Stockbett neben Stockbett. Bett 121 war das letzte in der linken Reihe. Als ich mich über den Bildschirm eincheckte, wurden mir 6 Stunden zugewiesen, dann musste ich es wieder verlassen haben. Die karierte Bettdecke war so exakt gefaltet, dass die Karos aufeinander zu liegen kamen. Im Schlafsaal stank es wie in einer alten Sportumkleide. Darunter mischten sich Ruß und Dreck. Die Luftqualität war bestenfalls D-minus.
Wenn ich mein restliches Leben bei Plastic Fantastic verbringen musste, würde mir eine durchschnittliche Lebenserwartung von 40 Jahren reichen. Schon die ersten Stunden waren unerträglich. Warum hatte ich mich in der Schule nicht mehr angestrengt? Ich Riesenrindvieh. Genau genommen hatte ich mich sogar angestrengt. Für diesen bescheuerten Schulstoff war mein Kopf einfach nicht gemacht. Aber wieso ich die Theaterprüfung vergeigt hatte, war mir ein totales Rätsel. Frau Alenkowa hatte mir immer Mut gemacht, dass ich es schaffen würde. Aber leider war Frau Alenkowa zur Abschlussprüfung schon nicht mehr an der Schule gewesen. Von einem Tag auf den anderen war sie einfach gegangen. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Irgendwie war ich es gewohnt, dass mich die Leute verließen, wenn ich sie am dringendsten brauchte: meine Eltern, Frau Alenkowa und natürlich auch Quinn. Ausgerechnet sein Lachen konnte ich nicht vergessen. Es war total ansteckend gewesen. Man kam ihm einfach nicht aus.
Ich starrte auf meine Bettdecke. Die Karos begannen in meinem Kopf zu flimmern.
KAPITEL SIEBEN
„Männer, heute ist euer erster Einsatz“, erklärte Cassaio. „Überwachung von Kurgästen aus dem fünften Industrie-Ring. Sie erhalten ihre monatliche Zweistunden-Luftkur in Jaikong.“ Cassaio sah erwartungsvoll in die Runde. Niemand schien so recht zu verstehen.
Quinn rückte seinen Waffengurt zurecht – voll ausgestattet mit Egalisierer, Tracer und Kommunikator. Das fühlte sich verdammt cool an. Quinns Hand glitt über den weichen Gummigriff des Egalisierers. Er spürte die Macht, die ihm die Waffe verlieh.
Als niemand etwas sagte, fuhr Cassaio fort: „Damals, bei meinem ersten Einsatz, bin ich fast erschrocken. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie fertig die Typen aus dem Fünften sind.“
„Dürfen wir unseren Egalisierer einsetzen, wenn einer von denen abhauen will?“, fragte ein Kadett.
„Klar, Einsatzverordnung Paragraf 17b“, antwortete Kirk.
Cassaio verschränkte seine Arme: „Ihr müsst euch vor den Kerlen in Acht nehmen. Sie haben nichts zu verlieren. Sie sind zu allem bereit.“
Quinn entsicherte probeweise seinen Egalisierer. Wenn es darauf ankam, würde er verdammt schnell ziehen. Das war fast wie ein Schuss aus der Vincoon-Trompete. Und mit der traf er in jeder Lage.
„Die Einsatzverordnung schreibt vor, bei Fluchtversuch von Luftkurgästen den Egalisierer auf Stufe eins einzusetzen. Höhere Stufen sind nur bei Gefahr im Verzug vorgesehen, aber es ist noch nie ein Aeronaut deswegen verurteilt worden. Wer kann mir bei dieser Gelegenheit noch einmal die fünf Wirkstufen unserer Egalisierer aufzählen?“, fragte Cassaio.
Das war wirklich nicht schwierig. Alle meldeten sich.
„Kadett Bomil!“
„Stufe 1 verursacht Benommenheit und Ohnmacht.
Stufe 2 bewirkt länger andauernde Ohnmacht, temporäre Lähmungserscheinungen. Löschung des Kurzzeitgedächtnisses ist möglich.
Stufe 3 sorgt für Ohnmacht, bleibende Lähmungserscheinungen sind möglich, Löschung des Kurzzeitgedächtnisses wahrscheinlich, dauerhafte Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses ist möglich.
Stufe 4 bleibende Lähmung tritt auf, Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses wahrscheinlich.
Stufe 5 sicheres Ausschalten des Gegners, dauerhafte Lähmungserscheinungen sind wahrscheinlich, dauerhafte Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses bis hin zur Löschung, Todesfälle möglich.
Stufe 5 ist nur zur Abwehr der Phunks-Terroristen zulässig.“
„Korrekt!“ Cassaio nickte anerkennend.
Der schmächtige Bomil strahlte.
„Abmarsch, Männer!“
Quinn spürte ein aufregendes Kribbeln im Bauch. Endlich hatte die langweilige Theorie ein Ende. Der Luftkurbereich war am Westrand Jaikongs im alten Stadion untergebracht, gleich neben der Kuppel. Durch einen Schleusentunnel wurden die Menschen aus dem Fünften direkt in den Kurbereich des Stadions transportiert. Unter Kurbereich hatte sich Quinn ein Spa mit Sauna, Massage und heißem Sprudelbecken vorgestellt, nicht zwanzig mal zwanzig Meter große Stahlkäfige nebeneinander aufgereiht mit Klappstühlen darin.
„Da müssen die Leute rein?“, entfuhr es Quinn. Er biss sich auf die Lippe.
„Für die Kerle kommt es doch nur darauf an, unsere gute Luft zu atmen. Sonst wollen die hier nichts“,