„Nein, bitte nicht“, schluchzte ich. „NEIN!“
Mit einem wütenden Fauchen schloss sich die Tür der Transportkapsel hinter Quinn. Diesmal war es endgültig. Die staubigen Scheiben gaben einen letzten Blick auf ihn frei. Dann presste mich der Druck der Beschleunigung unnachgiebig auf die graue Kunststoffbank.
KAPITEL FÜNF
Quinn wollte schreien, wollte jubeln. Er hatte es geschafft. Es war der absolute Wahnsinn. Sein Traum ging in Erfüllung!
Ein breites Lächeln zog sich über sein Gesicht. Wie ferngesteuert bewegte er sich auf die rettende Tür zu, die ihn vor dem Transport nach draußen bewahrte.
Er fühlte, wie eine warme Hand nach seiner griff. Kalanas Worte drangen nicht mehr in sein Bewusstsein vor. Irgendetwas in ihm weigerte sich, diese Laute zu übersetzen. Er wollte seinem schlechten Gewissen keine Nahrung geben. Ganz tief in seinem Inneren war eine mahnende Stimme, die ihn überreden wollte, bei Kalana zu bleiben. Mit ihr nach draußen zu fahren. Nein, jeder war für sein Leben selbst verantwortlich – tausend Mal hatten sie das in der Schule gelernt. Und die drei Musketiere, das war doch nur ein lächerlicher Kindertraum, weit ab von der Wirklichkeit. Sie waren der Fantasie eines Autors entsprungen, der sein Leben bestimmt selbst nicht auf die Reihe gekriegt hatte. Schlag um Schlag rang seine Vernunft das Gewissen nieder, verbannte es in die hintersten Winkel seines Bewusstseins.
„Gratuliere, Quinn“, lächelte ihn ein Aeronaut an, der höchstens ein paar Jahre älter war als Quinn und trotzdem schon den Trupp anführte.
„Ich bin Cassaio, Leutnant Cassaio, einer deiner Ausbilder. Willkommen bei den Aeronauten.“
„Woodburn, Quinn.“
Mit einem Ruck zog Quinn seine Hand aus Kalanas und ging.
Der silbergraue Gleiter der Aeronauten parkte direkt vor dem Transportterminal. Als sich Quinn in einen der gepolsterten Schalensitze fallen ließ und durch die abgedunkelten Scheiben nach draußen blickte, kam er sich schon wie ein Vincoonstar vor. Der Gleiter beschleunigte und schoss auf die oberste der fünf Straßenebenen. Quinn hatte so ein wunderbares Kribbeln im Bauch. Es fühlte sich unglaublich wichtig an, auf alle anderen herunterschauen zu können. Die fünfte Ebene war VIPs und Behördenfahrzeugen vorbehalten. Die Aussicht war phänomenal. Grau glitzernde Wolkenkratzer zogen sich in alle Richtungen bis zum Horizont. Und darüber lag wie aus Kristall geschnitten die gigantische Kuppel, die das Leben in Jaikong so lebenswert machte. Oben, fast im Zentrum der Kuppel, leuchtet das Grau ein wenig heller. Dort musste die Sonne stehen. Was für ein herrlicher Tag. Quinn wollte schreien vor Glück. Doch da drängte sich das Bild von Kalana dazwischen. Ihre Enttäuschung brannte sich übermächtig in sein Bewusstsein ein. Ein stechender Schmerz wie von einem Zahnarztbohrer durchfuhr ihn, als er in seiner Erinnerung noch einmal seine Hand aus ihrer zog. Mann, er sollte sich eigentlich freuen. Er hatte es geschafft. Sein Traum wurde gerade Wirklichkeit. Das Schicksal belohnte ihn für all die harte Arbeit auf den Vincoonspielfeldern. Und dann quälte ihn wieder der Gedanke an Kalana.
Quinn wusste nicht, wie lange die Fahrt dauerte. Er konnte sich nur noch erinnern, als sie die Abfahrt direkt neben dem Aero-Tower nahmen. Das blauschwarz verglaste Hochhaus überragte alle umstehenden. Der weiße Adler des Aeronauten-Wappens prangte über dem Eingangsportal.
Die Schleuse zur Tiefgarage wurde von schwer bewaffneten Aeronauten bewacht. Kanonengroße Egalisierer sicherten die Zufahrt.
„Die Sicherheitskontrollen sind verstärkt. Alarmstufe gelb. Da dauert es immer etwas länger“, erklärte Cassaio, als sie sich in die Warteschlange einreihten. „Wegen der Phunks. Es sind Anschlagspläne bekannt geworden“, fügte er düster hinzu.
Quinn nickte. Die Bedrohung durch die Phunks-Terroristen war in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Vor zehn Jahren waren Kalanas Eltern bei einem Anschlag der Phunks ums Leben gekommen. Und schon musste er wieder an Kalana denken. Der dritte Industrie-Ring war nicht so schlimm wie der vierte oder fünfte und außerdem würde er als Aeronaut die Phunks bekämpfen. Er würde auf der Seite der Guten stehen, den Tod von Kalanas Eltern rächen. Kalanas Vater hatte er nur ein oder zwei Mal gesehen, aber Elga Zookie, Kalanas Mama, hatte er noch gut in Erinnerung. Sie war eine unglaublich warmherzige Frau gewesen. Immer hatte sie sich Zeit genommen, die Geschichten der Kinder anzuhören. Großzügig durften sich alle aus ihrem Süßigkeitenschrank bedienen.
„Aussteigen, Quinn“, rief Cassaio.
Quinn schreckte auf. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er der Letzte war. Der Gleiter war längst zwischen anderen Einsatzfahrzeugen in der Tiefgarage geparkt.
„Du meldest dich in Ebene 23 beim Kadettenempfang. Dort bekommst du deine Ausrüstung und ein Zimmer zugewiesen.“
„Jawohl, Ebene 23, Kadettenempfang“, wiederholte Quinn und folgte Cassaio zum Aufzug.
„Wir sehen uns morgen zum Einführungsunterricht“, verabschiedete sich Cassaio von Quinn.
Ebene 23 wimmelte nur so von stahlgrau uniformierten Kadetten. Fertig ausgebildete Aeronauten trugen die gefürchteten blauschwarzen Uniformen.
Quinn erhielt vom Quartiermeister seine Ausrüstung in einer riesigen Tasche. Das Emblem der Aeronauten war außen aufgedruckt. „Hier noch unterschreiben“, schnauzte ihn der Mann an. „Du bist in Zimmer 23341 untergebracht, den Gang ganz vor, dann links und den zweiten wieder rechts.“
Quinn nickte und ging. Er war total aufgeregt. Stolpernd rumpelte er mit jemandem zusammen. Als er aufsah, blickte er in wasserblaue Augen. Die blonden Haare der Kadettin reichten bis zu den Hüften. Das Mädchen lächelte ihn herausfordernd an.
„Tschuldigung“, murmelte Quinn und ärgerte sich, dass er sich wie ein Trottel benahm.
„Bist du neu hier?“, fragte das Mädchen und strich sich die Haare aus der Stirn. Das half nichts. Sofort rutschten sie ihr wieder ins Gesicht.
„Ja, gerade angekommen“, stotterte Quinn und hob wie zum Beweis die schwere Tasche, „suche mein Zimmer.“
„Wo musst du hin?“
Quinn sah auf dem Formular nach, das er vom Quartiermeister bekommen hatte. „23341.“
Das Mädchen strahlte ihn an. „Cool, dann bist du bei Kirk.“
Quinn zuckte mit den Schultern.
„Kirk ist mein …“, dann hielt sie kurz inne, ließ ein weiteres Lächeln aufblitzen und begann den Satz von Neuem, „Kirk ist ein Freund von mir.“
Als Quinn das Lächeln mit einem planlosen Nicken erwiderte, bot sie an: „Ich bring dich hin. Am ersten Tag scheint hier alles total kompliziert zu sein. Aber das gibt sich schnell. Ich bin übrigens Lyrah.“
„Woodburn, äh, ich meine Quinn.“ Eigentlich stellte sich Quinn im Umgang mit Mädchen alles andere als dämlich an, wenn man einmal von Kalana absah. Er musste sich nicht einmal besonders bemühen. Irgendwie lief das immer. Aber heute war wohl nicht sein Tag.
Quinn folgte Lyrah durch die Gänge. Es kam ihm vor, als gingen sie im Kreis.
„Vincoon?“, fragte Lyrah und schüttelte ihren Kopf. Quinn konnte sich nicht erinnern, jemals so hellblonde Haare gesehen zu haben. Dabei wirkten sie ganz natürlich, bestimmt nicht gefärbt. Woher wusste das Mädchen, dass er ein Vincoon-Spieler war. Warteten sie schon auf ihn? Wahrscheinlich hatte sich längst herumgesprochen, dass er den Zehnjahresrekord seiner Schule aufgestellt hatte.
„Na, ich mein dein blaues Auge“, fügte Lyrah mit einem Zwinkern hinzu.
„Ach so das, nein … Das war ein Unfall auf dem Abschlussfest.“
„Schade, ich dachte, du spielt Vincoon. Also ich spiele, seit ich drei bin. Hab schon in der B-Jugend-Auswahlmannschaft gespielt, immer im Mittelfeld.“
„Doch, doch“, beeilte sich Quinn, die Sache richtigzustellen, „natürlich spiele ich auch Vincoon. Deshalb bin ich ja hier bei der Aeronauten.“
Das