wollte sie nicht, weil es ihr zu kalt war. Ins Kino wollte sie nicht, weil sie gehört hatte, der Film wäre doof. Und sich mit den anderen zu treffen, dazu hatte sie auch keine rechte Lust.
Bei uns benahm sie sich äußerst merkwürdig. Wenn wir in meinem Zimmer hockten, hatte ich oft das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Oft schlug sie vor, auf die Terrasse zu gehen.
„Das begreife ich nicht“, erwiderte ich. „Du willst nicht ins Schwimmbad, weil es dir zu kalt ist, aber es macht dir nichts aus, bei 12 Grad draußen zu sitzen?“
„Es ist schönes Wetter. In der Sonne ist es warm genug. An der Decke des Hallenbads hängt keine Sonne.“
„Nee, da ist bloß geheizt“, gab ich lakonisch zurück.
Dauernd wollte sie im Wohnzimmer fernsehen.
„Was für ein Quatsch!“, sagte ich. „Fernsehen kannst du auch allein. Dafür brauchen wir uns nicht zu treffen.“
„Gleich kommt aber eine meiner Lieblingsserien. Die ist super! Und hinterher können wir uns darüber unterhalten.“
Wir redeten hinterher nie über die Serien. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass Annika gar nicht bei der Sache war. Als ob sie auf etwas – oder jemanden – warten würde. Sobald auf dem Flur Geräusche zu hören waren, stand sie auf und ging raus – aufs Klo oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war unglaublich, wie viel Wasser sie in dieser Zeit trank. Kein Wunder, dass sie dauernd zum Klo rennen musste!
Als sie einmal bei uns übernachtete, fiel mir noch mehr auf. Beim Abendessen benahm sie sich völlig anders als sonst. Sie kicherte ohne Ende und versuchte, witzig zu sein. Da kam mir ein Verdacht ... Der bestätigte sich, als sie plötzlich behauptete, sie würde Judo toll finden, und Dominik allerhand Fragen dazu stellte. Ich wusste hundertprozentig, dass sie sich nicht die Bohne für Judo interessierte. Zumindest hatte sie mir gegenüber noch nie etwas in der Art geäußert. Zu meiner Überraschung ging Dominik ausführlich auf ihre Fragen ein und er schien es sogar gern zu tun. Er gab ihr Auskunft über Kampftechniken, Prüfungen und Gürtel. Er hatte übrigens den braunen, was Annika mit tiefer Bewunderung zur Kenntnis nahm. Mit großen Augen staunte sie ihn an. Sie hatte zu viel Wimperntusche aufgetragen, die zum Teil verlaufen war, sodass es aussah, als hätte sie schwarze Ringe unter den Augen.
Als wir später allein in meinem Zimmer saßen, sagte ich es ihr auf den Kopf zu: „Du bist in Dominik verknallt.“
Erst stritt sie es ab.
„Komm, gib’s zu. Mir kannst du nichts vormachen.“
Sie schaute an mir vorbei aus dem Fenster. „Es stimmt“, sagte sie leise.
„Du lieber Himmel, Annika! Lass die Finger von ihm!“
„Er ist sooo goldig ...“
„Glaub mir, er ist ein Riesenarschloch.“
Aber davon wollte Annika nichts hören. „Ich hab’s dir schon oft gesagt. Du behandelst ihn nicht richtig.“
„Egal wie ich ihn behandele, er ist immer blöd zu mir.“
„Aber zu mir wäre er sicher nicht blöd.“ Annika bekam einen träumerischen Gesichtsausdruck. „Denk nur daran, wie lieb er mir alles über Judo erzählt hat ...“
„Wofür du dich ja so brennend interessierst“, warf ich ironisch ein.
„Das tue ich tatsächlich. Alles, was Dominik betrifft, interessiert mich.“
Ich seufzte schwer. „Ich kann dich nicht davon abhalten, in dein Unglück zu rennen. Aber bitte sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
In einem Punkt hatte Annika recht: Zu ihr war mein Stiefbruder tatsächlich anders als zu mir. Er maulte sie nie an, und einmal – ich traute meinen Ohren kaum – ließ er sich sogar herab, ihr was in Chemie zu erklären, was sie angeblich nicht verstanden hatte. Kann sein, dass sie es wirklich nicht verstanden hatte. Gewundert hätte es mich nicht. Wer – außer Dominik – verstand schon solch einen komplizierten Kram! Naturwissenschaften waren seine Lieblingsfächer in der Schule. In seinem Zimmer lagen stapelweise populärwissenschaftliche Magazine, in denen er ständig las.
Er wollte übrigens Medizin studieren. Die bedauernswerten Menschen, die später als Patienten zu ihm kommen würden, taten mir leid. Wahrscheinlich würde er sie anblaffen, was ihnen einfiele, krank zu werden und ihn zu belästigen.
Annika fand es natürlich großartig, dass er Arzt werden wollte. Das hieß allerdings nicht viel. Sie wäre bestimmt auch überwältigt gewesen, wenn er als Berufswunsch Fliegenfänger angegeben hätte.
Nachdem sie mit der Wahrheit rausgerückt war, hatte ich keine Ruhe mehr. Sie redete über nichts anderes als über Dominik.
Schon vor der Schule musste ich ihre Fragen beantworten. Ob es was Neues von Dominik gäbe. Was in drei Teufels Namen sollte es von einem Tag auf den anderen schon großartig Neues geben? Was er gemacht hätte, wollte sie wissen. Nicht viel, außer mir wie jeden Tag auf die Nerven zu gehen. „Glaub mir, der Kerl ist ätzend“, beschwor ich sie. Doch meine Worte stießen auf taube Ohren. Ob er was Interessantes gesagt oder gefragt hätte, bohrte sie weiter. Damit meinte sie natürlich, ob er über sie gesprochen oder nach ihr gefragt hätte. Leider musste ich sie da stets enttäuschen.
Jede Pause konnte ich mir nun anhören, wie attraktiv und supercool er war. Sie baute sich an einer bestimmten Stelle auf dem Schulhof auf: oben auf der Treppe zum Haupteingang, an einem der Pfeiler. Von dort aus hatte man den besten Überblick über den Schulhof. Ich sollte mit gucken, ob er irgendwo auftauchte. Na danke! Mir reichte es vollkommen, dass er mir zu Hause andauernd über den Weg lief!
Sobald er erschien, wurde sie tomatenrot im Gesicht. Sie zog mich mit sich fort, um „gaaanz unauffällig“ an ihm vorbeizuflanieren. „Hi, Dominik“, rief sie ihm mit dieser fremd klingenden Stimme zu, die viel höher war als ihre normale Stimme. Zu meinem Erstaunen grüßte er zurück. Manchmal grinste er sie sogar an.
Ich begann zu überlegen. Könnte es sein, dass Dominik in sie verschossen war? Oder zumindest dabei war, sich in sie zu verlieben?
Als sie eines Samstags zu uns kam, kriegte ich einen Schreck. Selbst ich fand, dass sie mit ihrem Make-up übertrieben hatte. Ihr Gesicht war viel zu dunkel geschminkt, auf ihren Wangen prangten zwei rote Flecke, und sie hatte violetten Lidschatten aufgetragen. Am schlimmsten aber war der Mund mit dem grellroten Lippenstift. Sie hatte die Lippenränder mit einem Konturenstift nachgezeichnet und versucht, den Mund größer erscheinen zu lassen. Nun sah es aus, als hätte sie übergemalt. Wenn sie meinem Stiefbruder so über den Weg lief – und die Gefahr war ziemlich groß –, würde er garantiert eine dumme Bemerkung machen!
„Schnell“, rief ich. „Komm mit ins Badezimmer. Du musst dein Make-up abwaschen.“
„Wieso?“, protestierte Annika.
„Du siehst aus ...“ Beinahe hätte ich gesagt: als ob du gleich im Zirkus auftreten wolltest. Als Clown. „Das sieht nicht besonders gut aus“, verbesserte ich mich schnell.
Aber Annika wollte nichts abwaschen. Sie beharrte darauf, dass ihr das Make-up hervorragend stünde.
Wir debattierten noch im Flur, als ich hörte, wie sich Dominiks Tür öffnete. Gleich darauf kam er die Treppe heruntergesprungen. „Schicksal, nimm deinen Lauf“, dachte ich resigniert.
Doch es kam anders, als ich erwartet hatte.
„Hi, Dominik“, rief Annika mit dieser hohen, fast schrillen Stimme. „Merle findet, dass ich zu stark geschminkt bin. Was meinst du?“
Mir wurde schwarz vor Augen.
Er blieb einen Augenblick stehen und musterte sie. Ich wappnete mich innerlich.
„Ist okay“, sagte er und lief weiter.
Triumphierend schaute Annika mich an. Und ich, ich verstand die Welt nicht mehr!
Diese