Eva Markert

Stiefbrüder küsst man nicht


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er hoch. „Was fällt dir ein, hier einfach reinzuplatzen?“

      „Ich habe geklopft.“

      „Aber ich habe nicht ‚Herein‘ gesagt. Geh weg! Du störst.“

      „Wobei? Beim Nichtstun?“, entgegnete ich schnippisch.

      „Ich habe nachgedacht.“

      „Das tut mir aber leid, dass ich deine hochgeistigen Gedankenflüge unterbrochen habe“, höhnte ich.

      So war das bei uns. Wir konnten kein Wort wechseln, ohne sofort in Streit zu geraten.

      „Was willst du überhaupt?“, fragte er mich barsch.

      Eigentlich wollte ich gar nichts mehr, sondern hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Der Kerl sollte sich nur ja nicht einbilden, dass er und seine Meinung mir wichtig wären. Aber nun hatte ich schon mal den ersten Schritt getan. Und es interessierte mich tatsächlich brennend. Also erkundigte ich mich: „Fandest du Annikas Make-up tatsächlich in Ordnung?“

      „So genau habe ich nicht hingeguckt.“

      „Na hör mal! Sie hat dich doch extra darauf angesprochen.“

      „Soweit ich gesehen habe, sah sie okay aus.“

      Ich spürte Ärger in mir aufkommen. „Das musst du mir allerdings erklären“, begann ich.

      „Ich muss dir überhaupt nichts erklären“, fiel er mir ins Wort.

      Ich ging darüber hinweg. „Als ich mich neulich geschminkt habe, hast du gesagt, ich würde dich an einen Zirkusclown erinnern.“

      Das schien ihn selbst zu überraschen. Einen Augenblick blieb er stumm. „Du bist nicht Annika“, antwortete er schließlich.

      „Was soll das heißen? Dass es bei Annika gut aussieht und mir nicht, oder was?“

      „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr genau, wie es bei dir und Annika aussah.“

      Ich war verwirrt. Bedeutete das, dass er bei mir genauer hinguckte als bei Annika? Ich wollte gerade nachhaken, als er hinzufügte: „ Und jetzt zieh Leine.“ Ich sah seinen Blick und zog es vor, genau das zu tun.

      Nun legte ich mich meinerseits aufs Bett und überlegte. Es hatte den Anschein, dass er, wenn es um mein Äußeres ging, strengere Maßstäbe anlegte als bei Annika. Warum? Weil ich zur Familie gehörte? Denn das tat ich ja, ob es ihm nun passte oder nicht. Wahrscheinlich wollte er sich nicht für mich schämen müssen. Mehr steckte sicher nicht dahinter. Oder drückte er bei Annika beide Augen zu, weil er eine Schwäche für sie hatte?

      Der erzählte ich übrigens nichts von diesem Gespräch. Aber ich begann meinen Stiefbruder zu beobachten. Hielt er auf dem Schulhof Ausschau nach ihr? Freute er sich, wenn er sie sah? Und wenn sie bei uns war, redete er dann freiwillig mit ihr?

      Einmal kam er rein, als wir uns gerade in der Küche Kakao machten. „Na, was habt ihr beiden wieder zu kichern und zu schnattern?“, fragte er. Für seine Verhältnisse war das fast freundlich. Ich warf ihm trotzdem einen finsteren Blick zu.

      Annika war nicht die Spur beleidigt. Sie lachte. „Willst du auch einen Kakao?“

      Diesmal galt mein finsterer Blick Annika. Er wurde noch finsterer und richtete sich auf Dominik, als der das Angebot annahm und sich zu uns an den Küchentisch setzte. Es störte mich gewaltig, dass wir ihn nun am Hals hatten. Und zu allem Überfluss blieb er sitzen, nachdem er seinen Kakao ausgetrunken hatte.

      Annika war selig. Sie befragte ihn nach seinen Zukunftsplänen, und ich erfuhr zu meinem Erstaunen, dass Dominik sich besonders für die Herzchirurgie interessierte. Davon hatte er mir bisher kein Sterbenswörtchen gesagt. „Du kannst überhaupt nicht wissen, ob du dich dafür interessierst“, wandte ich ein. „Du hast doch noch nicht mal angefangen mit dem Studium.“

      „Ich habe schon viel darüber gelesen. Aber es stimmt natürlich. Möglicherweise ändere ich meine Meinung später.“

      Verblüfft schaute ich ihn an. Er hatte mir noch nie in irgendetwas Recht gegeben.

      Ich hörte ihm und Annika weiter zu. Sie sprachen über die Schule und dann über Sport. Was Dominik sagte, war insgesamt gar nicht mal so dumm. Und er sprach mich mehrmals an, um meine Meinung zu hören. Ausnahmsweise stritten wir uns nicht.

      Zum Beispiel fand ich, dass man es beim Sport nicht übertreiben sollte. „All diese armen Jogger“, sagte ich, „die sich hechelnd mit zerquälten Gesichtern vorwärtskämpfen, die tun mir richtig leid. Das kann doch nicht gesund sein, was die sich da antun.“

      „Es gibt nichts Besseres für die Gesundheit als Joggen“, behauptete Annika eilig. Dabei war sie noch nie in ihrem Leben auch nur einen halben Meter gejoggt.

      Dominik lachte. „Die sich hechelnd mit zerquälten Gesichtern vorwärtskämpfen“, wiederholte er meine Worte. „Das hat Merle sehr anschaulich beschrieben.“

      Ich verstand die Welt nicht mehr.

      „Ich denke ebenfalls, dass Jogger sich schaden“, fügte er hinzu, „vor allem, wenn sie einen asphaltierten Weg neben einer befahrenen Straße entlangschnaufen. Das ist bestimmt nicht nur schlecht für die Gelenke, sondern auch für die Atemwege.“

      Ich verstand die Welt immer weniger. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Annikas Anwesenheit musste meinen Stiefbruder milde stimmen.

      „Du bist also gegen das Joggen?“, fragte Annika ihn.

      „Nicht unbedingt. Auf Waldboden, und wenn man sich gleichzeitig noch unterhalten kann, ist es okay.“

      Ich war derselben Ansicht.

      Das Einvernehmen zwischen uns endete, als wir über das Abi sprachen. Ich hielt nichts vom sogenannten Turbo-Abi nach zwölf Schuljahren. „Das bedeutet zu viel Stoff in zu kurzer Zeit, zu viel Stress für die Schüler und zu wenig Freizeit“, erklärte ich. Etwas Ähnliches hatte ich mal in der Zeitung gelesen und dem stimmte ich aus vollem Herzen zu.

      „Das ist Quatsch“, entgegnete Dominik. „Man muss sich seine Zeit bloß richtig einteilen.“

      „In anderen Ländern schaffen sie es auch locker in zwölf Jahren“, steuerte Annika bei.

      Dominik nickte. „Genau!“

      Annika freute sich über seine Zustimmung. Sie strahlte richtig.

      Ich war plötzlich ein bisschen sauer. Wieso eigentlich? Jeder hatte doch ein Recht auf seine eigene Meinung!

      „Na ja“, setzte ich hinzu, „auf jeden Fall ist es ein Vorteil, dass man ein Jahr eher aus der Penne rauskommt.“

      Sein abschätziger Blick traf mich. „Das ist typisch für dich. Nur ja nicht zu viel arbeiten!“

      „Streber!“, schnappte ich.

      Womit wir wieder beim üblichen Umgangston waren.

      Was Annika nun sagte, rechnete ich ihr hoch an. „Merle ist überhaupt nicht faul“, widersprach sie. „Sie hat zum Beispiel immer ihre Hausaufgaben.“

      Dominik überzeugte das nicht. „Ich bitte dich!", rief er aus. „Das ist doch wohl selbstverständlich!“

      „Hast du etwa nie deine Hausaufgaben vergessen oder vor dem Unterricht abgeschrieben?“, wollte Annika wissen.

      Dominik zögerte kurz. „Doch. Das ist gelegentlich vorgekommen“, gab er dann zu.

      „Na siehst du!“

      „Und ich bereite mich immer gründlich auf Arbeiten vor“, ergänzte ich. Als ob ich es nötig hätte, mich vor Dominik zu verteidigen!

      Der hatte offensichtlich keine Lust mehr auf weitere Diskussionen und stand auf. „Macht’s gut, ihr zwei“, sagte er und ging raus.

      „Er hat sich mit uns unterhalten! Ganz lang!“ Annika war hin und weg. Und ich musste mir die gefühlte zehntausendste Lobrede auf ihn anhören.