Juna Aveline B.

Wege des Himmels


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Wir hatten gepackt und nach dem Frühstück wollten meine Eltern mit meinem Bruder und mir in den Urlaub nach Wien aufbrechen. Unvernünftig wie ich schon immer war, sprang ich an diesem Morgen einmal wieder barfuss durchs Haus. Bis meine Mutter mich ermahnte, Strümpfe und Hausschuhe anzuziehen. In meinem Übermut und meiner Freude, endlich Sissis Wien, das Schloss Schönbrunn, den Tierpark, den Prater und die anderen Sehenswürdigkeiten zu sehen, rannte ich in mein Zimmer, um Socken und Hausschuhe anzuziehen. Doch genau da passierte es – ich weiß bis heute nicht, wie es überhaupt passieren konnte. Mit meinem kleinen Zeh stieß ich an das maximal einen Zentimeter hervorstehende Seitenteil meines Kleiderschranks und verspürte daraufhin einen Schmerz in ungekannter Stärke, sodass ich mit voller Lautstärke losschrie, was meine Mutter veranlasste, sofort in mein Zimmer zu eilen, um nachzusehen, was passiert war. Der Zeh stand im Neunzig-Grad-Winkel vom restlichen Teil meines Fußes ab. Es sah nicht gesund aus. Somit verfrachtete mich meine Mutter direkt ins Auto und fuhr mich zum nächsten Unfallarzt, der nach stundenlangem Warten den Fuß erst einmal röntge und damit bestätigte, was jedes Mitglied meiner Familie, nachdem der Fuß ausgiebig begutachtet worden war, vorab feststellte: Der Zeh war gebrochen. Der Arzt verordnete Schonung und das Hochlegen des Beines.

      Damit konnte ich das Sightseeing in Wien abhaken. Ich konnte nicht laufen, lediglich humpeln mit dem Verband, den der Arzt anlegte.

      Genauso wie damals humpelte ich nun auch vom Bad ins Schlafzimmer, nur das unkontrollierte Schreien unterdrückte ich diesmal erfolgreich. Ich warf mir ein T-Shirt über und zog mir Shorts an. Dann humpelte ich weiter ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch legte, versuchte, mich mit fernsehen vom Schmerz abzulenken und auf Björn wartete, der wegen des Umzugs bereits schon an diesem Abend von Berlin kam.

      Björn war schließlich der Meinung, nachdem ich ihm das Drama geschildert hatte, dass ich auf jeden Fall am nächsten Morgen zum Arzt gehen sollte, sicher sei schließlich sicher, auch wenn ich wusste, dass der Arzt nichts weiter unternehmen würde, außer den Zeh mit Tape zu fixieren. Aber ich beugte mich seiner Meinung.

      Am nächsten Morgen war es wieder so schwül. Bereits als ich mich im Bett aufsetzte, war mir etwas schwindelig. Ich stieg auf und mein erster Weg führte mich ins Wohnzimmer, wo ich mich auf der Couch wieder niederließ, kurz vor einer Ohnmacht. Mir war bereits schwarz vor Augen und ich sah nichts mehr, aber ich hatte gelernt, mich in solchen Situationen noch so lange auf den Beinen zu halten bis ich mich sicher hingelegt oder gesetzt hatte, sodass mir nichts weiter passieren konnte. So lag ich dann auf der Couch und während das Blut langsam wieder in meinen Kopf zurückfloss, schaffte ich es sogar, meine Beine mit Hilfe eines Kissens hochzulegen. Der Tag ging ja gut los! Nach einigen Minuten Ruhe startete ich einen erneuten Versuch und stand langsam auf. Diesmal gab es keine Probleme mehr. Ich humpelte ins Bad, zog mir einen luftigen Sommerrock und ein T-Shirt an und rief beim Arzt an, ob ich gleich vorbei kommen könnte. Die Arzthelferin meinte zwar, dass viel los sei, bat mich aber gleich in die Praxis zu kommen. Björn, der inzwischen auch wach und angezogen war, fuhr mich zum Arzt und begleitete mich sogar in die Praxis. Das Wartezimmer war tatsächlich bis auf den letzten Platz voll. Nachdem Björn und ich bestimmt 45 Minuten gewartet hatten, wurde ich endlich zum Röntgen gebracht. Dann mussten wir wieder warten. Irgendwann rief der Arzt uns dann doch noch ins Sprechzimmer und bestätigte, was ich bereits vermutet hatte. Der Zeh war gebrochen, zum Glück war aber nur ein kleiner Riss im Knochen. Er beschloss schließlich, dass ich mir in der Apotheke selbst Tape kaufen solle, damit ich den Zeh eigenständig fixieren konnte, denn schließlich überlebte ein Tapeverband keine Dusche. Und bei diesem schwülen Wetter wollte ich bestimmt nicht täglich in die Praxis kommen, nur um mir den Zeh erneut tapen zu lassen. Ich stimmte seiner Idee voll und ganz zu. Dann ließ er seine Arzthelferin den Zeh fixieren, was ich mir genau anschaute, damit ich es in den nächsten Tagen selbst wiederholen konnte. Mit den Worten, ich solle doch noch kurz im Wartezimmer Platz nehmen bis mein Rezept ausgestellt sei, verabschiedete sich der Arzt. Die Schmerzen, die die Arzthelferin gerade verursachte, während sie meinen Zeh gerade rückte und fixierte, ließ ich mir nicht anmerken und lächelte dem Arzt zum Abschied dankbar zu. Dann war zum Glück auch die Arzthelferin fertig.

      Ich durfte aufstehen und humpelte ins Wartezimmer, das inzwischen überfüllt war. Also stellten Björn und ich uns in den Empfangsbereich, um auf das Rezept zu warten. Nach fünf Minuten fing mir an, übel zu werden.

      „Mir ist übel. Ich glaube, ich muss mich setzen!“, meinte ich hilfesuchend zu Björn.

      Einfühlsam wie er war, meinte er einfach „Denk an was anderes. Dann geht die Übelkeit vorbei!“

      Eine Minute später war die Übelkeit aber nicht besser und da ich sah, dass gerade ein Platz im Wartezimmer frei wurde, watschelte ich ins Wartezimmer und setzte mich. Ich lehnte meinen Kopf erschöpft zurück an die Wand. Ich fing an zu fliegen, fühlte mich leicht…. Und ab dann weiß ich nichts mehr.

      Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, war, dass mir jemand mehr oder weniger sanft auf meine Wangen schlug und meinen Namen rief: „Frau Sommer! Haaaalloooo!“. Eine weitere Stimme erklang: „Sie kommt langsam wieder!“

      Ich spürte, dass ich auf einmal auf dem Boden lag (Wie war ich da hin gekommen? Eben saß ich doch noch!), wie jemand unter meine Beine griff, sie auf einen weichen Gegenstand legte, und mir jemand einen nassen, kalten Lappen auf die Stirn legte. Ich schlug meine Augen auf, sah diverse Beine und dann diverse Gesichter und erschrockene Augenpaare, die alle auf mich gerichtet waren.

      Ich dachte mir nur „Leute, gebt mir zwei Minuten, dann ist alles wieder gut!“, aber der Arzt und die Arzthelferinnen und auf einmal auch Björn waren der Meinung, mich direkt zum EKG zu schicken, in die Arztpraxis ein Stockwerk niedriger.

      Ich kam wieder vollends zu mir, bemerkte, dass meine Beine auf einem Gymnastikball ruhten und mein Rock bedenklich weit nach oben gerutscht war, und das vor all den Menschen im voll besetzten Wartezimmer. So etwas konnte auch nur mir passieren. War eben noch zu wenig Blut in meinem Kopf, so war nun in Sekundenschnelle zu viel davon in meinem Kopf. Das Blut schoss mir geradezu in die Wangen und Ohren, sodass sich mein Kopf tomatenrot färbte. Ich bestand darauf, alleine aufzustehen und trotz mehrfacher Versicherung, dass es mir gut gehe und dass alles in Ordnung sei, wurde ich in einen Rollstuhl gesetzt und nach unten in die andere Arztpraxis gebracht. Alles Murren half nichts. Vor allem Björn war auf einmal mehr als fürsorglich.

      Das EKG blieb natürlich o.B. – ohne Befund, was mir völlig klar war.

      Ich hatte es echt mal wieder geschafft – die Auszeichnung für die peinlichste Aktion des Jahres ging eindeutig an mich: In Ohnmacht fallen vor versammelter Mannschaft im Wartezimmer, dazu noch einen Sommerrock anzuhaben, der mehr als bedenklich hochgerutscht war, als ich auf dem Boden lag, die Beine auf dem Gymnastikball. Ein Glück kannte mich niemand der Patienten!

      Naja, sowas kommt vor in meinem Leben, sowas passiert halt schon mal. Aber jetzt ist es schon spät und morgen wird wieder ein anstrengender Tag!

      Gute Nacht, Tagebuch, ich träume noch ein bisschen von Berlin…

      Montag, 20. August 2007

      Hallo Tagebuch,

      ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass ein Mann Tagebuch schreibt, das wird immer nur Frauen zugestanden, aber ich habe es mir angewöhnt als ich 15 war. Damals habe ich angefangen, Tischtennis nicht nur als Hobby, sondern profimäßig zu betreiben. Mit Paps habe ich zwar schon immer mehr trainiert als die anderen im Team, aber 1994 fing es an, dass ich immer öfter auf Turnieren oder Wettkämpfen war. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben vor lauter Training, Schule und Wettkämpfen so schnell verläuft, dass ich mich später gar nicht mehr daran erinnern könnte. Davor hatte ich Angst. Deswegen habe ich angefangen, immer mal wieder die wichtigsten Ereignisse festzuhalten. Ich stellte mir damals schon vor, wie es sein wird, wenn ich im Alter von 75 Jahren auf meinem Schaukelstuhl sitze und meinen Enkeln von meinen vielen Wettkämpfen erzähle, aus meinem Tagebuch vorlese und mich selbst auch wieder erinnere, wie sich das alles angefühlt hat. Es war toll. Es sind nicht einmal die vielen gewonnenen Turniere, Titel oder was auch immer, sondern das Gefühl im Spiel. Ich nehme nur noch die Tischtennisplatte und den Ball wahr, der Schläger