Juna Aveline B.

Wege des Himmels


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28. Oktober 2007

      Puh! Ich war beim Zahnarzt! Sehr skurril war das alles!

      Ich saß im Wartezimmer und war ziemlich nervös. Natürlich war ich nervös! Wer wäre nicht nervös, bevor man etwas macht, wovon man genau weiß, dass es schmerzhaft sein wird. Eben damit es nicht so eine Tortur für mich wird, wollte ich die Behandlung unter Narkose. Ich überlegte mir, wie das wohl ablaufen würde, wie viele Termine diese Behandlung in Anspruch nehmen würde. Und ich fragte mich, wie der Zahnarzt sein würde. Ich rechnete mit einem dicklichen Mittfünfziger, graue Haare, grauer Bart und die Augen hinter einer Brille versteckt. Hoffentlich hatte er sanfte Augen und Verständnis für meine Angst.

      Wahrscheinlich hatte ich schon alle möglichen Arten von Zahnärzten durch: der immer gut gelaunte, quietsch-fidele mit der viel zu hohen Stimme, den man sich eher als Clown im Zirkus vorstellen könnte; der brummige, schlecht gelaunte, „aber ich mache meine Arbeit, damit sich mein Bankkonto füllt“ mit einer „in meinem früheren Leben war ich Metzger und davor Henker, also stell dich nicht so an“ – Mentalität; und den „ich guck dich treudoof an, weil ich weiß, dass du Schmerzen hast, aber ich kann es nun mal nicht ändern und abgesehen davon muss ich damit meine Brötchen verdienen, also bringen wir es hinter uns“ – Zahnarzt.

      Der Henkersmetzger zusammen mit meinem „Isch liebe Les aventures de Tintin und wenn du die Zahnspange nicht trägst, habe ich bald das Kapital, um meine Praxis vergrößern zu können“ - Kieferorthopäden waren mein ganz persönlicher Alptraum. Der Kieferorthopäde beschloss nämlich, dass mir fünf Zähne gezogen werden müssten, davon ein Milchzahn mit noch darunter im Knochen liegendem bleibendem Zahn.

      Der Tag, an dem diese beiden Zähne gezogen wurden, war der schwärzeste in meinem bis dato so jungen und unschuldigen Leben. Ich saß beim Henkersmetzger auf dem Behandlungsstuhl und hatte furchtbare Angst. Aber ich bekam ja eine Spritze, sodass ich nichts merken sollte. Die erste Spritze wirkte nicht und als der Henker den ersten Zahn holen wollte, schrie ich auf vor Schmerzen. Die zweite Spritze entfaltete unwesentlich mehr Wirkung, ich schrie weiter. Es folgte eine dritte, vierte und fünfte Spritze. Ob ich noch eine sechste Spritze bekam, weiß ich nicht; ich hatte aufgehört zu zählen. „Mit der Dosis an Betäubungsmittel hätte ich ein Walross betäuben können!“ meinte der Metzger unfreundlich als ich irgendwann kraftlos auf dem Zahnarztstuhl saß und alles mit mir geschehen ließ. Ich wollte nur noch heim. Nie mehr wollte ich zu diesem Henkersmetzger in Behandlung, aber mit elf Jahren konnte ich mich noch nicht allzu gut gegen meine Eltern durchsetzen, also war ich ein paar Monate später wieder bei ihm. „Ohje, da sind ja zwei Karies, da muss ich bohren“ meinte der Henker in süffisant widerlichem Ton. „Ich will aber keine Amalgam-Füllung“ – trotz meines jungen Alters wusste ich, was ich wollte, und zwar weiße Zähne und kein mit Quecksilber belastetes ekelhaft graues Etwas in meinen Zähnen. Irgendwie überstand ich auch dieses furchtbare an meinen Zähnen Herumgewerkel. Geschafft kam ich zuhause an und betrachtete im Spiegel meine neuen Füllungen – da glotzen mich zwei große graue Amalgamfüllungen an. Jetzt machte ich aber richtig Theater bei meinen Eltern – Schreien, Weinen, Wutanfälle – aber letztendlich musste ich die zwei Glotzaugen in meinem Mund akzeptieren. Wenigstens hatte ich erreicht, nie mehr zu diesem Henkersmetzgerzahnarzt zu müssen.

      Und jetzt saß ich hier in Berlin in der Zahnklinik und wartete darauf, dass ich endlich diese widerlichen Amalgamfüllungen entfernt bekam. Zum einen freute mich das, endlich wurde ich die Dinger los – zum anderen, weshalb ich dieses Unterfangen so lange vor mich hergeschoben hatte, hatte ich wahnsinnige Panik davor.

      „Frau Sommer“ ertönte die zu freundliche Stimme der Zahnarzthelferin. „Kommen Sie mit mir?“

      Ich erhob mich und folge ihr mit dem Herz in der Hose ins Behandlungszimmer.

      „Nehmen Sie schon einmal Platz. Der Zahnarzt kommt sofort.“

      Ich legte meine Jacke und meine Tasche auf einen Stuhl und blickte genau in dem Moment auf als ein junger Adonis mit übermäßig guter Laune ins Behandlungszimmer kam. „Sind die hier fortschrittlich, die beschäftigen hier sogar Zahnarzthelfer!“ dachte ich im ersten Moment. Als der freundliche, junge Mann mir dann aber die Hand reichte und meinte „Hallo! Ich bin Herr Bergmann“ begriff ich, dass das kein Zahnarzthelfer, sondern mein neuer Zahnarzt war. Er war nicht älter als Anfang dreißig, eher Ende zwanzig, dunkelblonde wuschelige Haare, die mit ein wenig Gel aus dem Gesicht gehalten wurden und eine sportliche Figur. „Nein, das darf doch nicht wahr sein! Den soll ich an meine Zähne lassen? Der ist so jung, der hat solch eine Behandlung bestimmt noch nie gemacht. Ich glaub ich such mir lieber eine andere Klinik“ begannen meine Gedanken zu schwirren.

      „Nehmen Sie doch Platz!“ redete der Arzt weiter. „Was kann ich für Sie tun?“

      Mein automatisches Handeln setzte ein. Das passierte immer, wenn ich in Panik geriet. Je mehr Panik, umso ruhiger und kontrollierter schien mein Verhalten nach außen. Außerdem hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Gedanken. Besser gesagt – ich dachte gar nicht mehr, ich handelte nur noch. Also setzte ich mich und spulte den Text ab, den ich vorab im Kopf einige Male durchdacht hatte.

      „Ich habe zwei alte Amalgamfüllungen, die endlich entfernt werden müssen. Stattdessen wollte ich mir Inlays einsetzen lassen. Und weil ich ziemlich Angst vor der Behandlung habe, würde ich diese gerne in Vollnarkose durchführen lassen, damit ich von alldem nichts mitbekomme.“

      „In Vollnarkose?“

      „Ja, glauben Sie mir, mit Narkosen kenne ich mich aus, das habe ich schon so oft mitgemacht, das macht mir nichts aus.“

      Verwundert und zweifelnd sah er mich aus seinen großen, gut gelaunten, türkisgrünen Augen an. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen einem leisen Zweifeln an meiner Zurechnungsfähigkeit, womit er nicht ganz falsch lag, einem leichten Schmunzeln, weil er sich wohl über meine Zahnarztangst amüsierte und einigen Sorgenfalten, weil er wohl Bedenken wegen der Vollnarkose hatte. Die Sorgenfalten gewannen den Kampf. Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich mich wirklich mit Narkosen auskenne. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich bisher in meinem Leben operiert wurde. Als Kind hatte ich dauernd mit Nasenpolypen zu kämpfen. Einmal war es sogar so heftig, dass mir in einer ersten Operation die Polypen entfernt wurden, in einer zweiten OP sieben Tage später dann eine Nachkontrolle gemacht werden sollte, wobei die Ärzte auch die Nase säubern wollten. Doch soweit kamen sie nicht, denn inzwischen waren die Polypen schon wieder nachgewachsen, sodass sie erneut entfernt werden mussten. Zum Glück kann ich mich kaum noch an die Zeit erinnern, in der das Problem mit den Polypen so massiv war.

      Eine kratzige Stimme holte mich zurück aus meinen Erinnerungen, zurück in das kalte, sterile Behandlungszimmer, wo ich freiwillig um die nächste OP in meinem Leben gebeten hatte.

      „Also wegen zwei Füllungen, die gewechselt werden müssen, mache ich keine Behandlung in Vollnarkose. Das Risiko ist viel zu hoch. Aber schauen wir uns das Ganze erst einmal an.“

      Jetzt übernahm die Panik endgültig mein komplettes Selbst. „Keine Behandlung in Vollnarkose – das bedeutete Schmerzen. Risiko viel zu hoch – er wurde ja nicht betäubt. Das ist mein Risiko, ob ich wieder wach werde oder nicht. Besser als diese Panikattacken!“ In meinem Kopf schwirrten unkontrollierbare Gedanken während er sich ein Bild von meinen Zähnen machte.

      „Frau Sommer?“ leise drang diese penetrante, leicht raue Stimme zu mir vor, die mir Schmerzen zufügen wollte, die sich über meine Angst vor Zahnärzten amüsierte und dabei noch zu einem so attraktiven Mann gehörte. Ich konnte nicht reagieren.

      „Frau Sommer?“ fragte die Stimme wieder. „Ist bei Ihnen alles okay?“

      Ich nickte.

      „Dann machen wir jetzt noch ein Röntgenbild und Sie können danach mit meiner Kollegin den nächsten Termin vereinbaren.“

      Ich schaute ihn an und fragte mich, wovon er eigentlich redete. Wofür einen nächsten Termin, wenn ich doch erst einmal noch eine andere Zahnklinik aufsuchen wollte? Zum Glück ist Berlin groß mit mehreren Zahnkliniken.

      „Gut, dann bis zum nächsten Mal“ verabschiedete sich Doktor