Juna Aveline B.

Wege des Himmels


Скачать книгу

geliebt haben, obwohl wir eigentlich beide viel zu müde waren.

      Wir waren im Bad und haben uns die Zähne geputzt, als sich unsere Blicke trafen. Sie schaute mich an und ich ließ meine Blicke über ihren Körper gleiten. Sie hatte nur noch ihr Schlaftop und eine kurze Shorts an. Nichts besonderes, aber sie sah darin so heiß aus. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Wir waren fertig mit Zähne putzen, sahen uns an und küssten uns so stürmisch wie schon lange nicht mehr. Wir taumelten eng umschlossen und wild knutschend in unser Schlafzimmer, ich legte mich auf sie und küsste sie weiter, während ich mit der Hand ihr Top hochschob und anfing, ihre Brüste zu streicheln. Aber gestern wollte Marle nicht viel Zeit mit Streicheln und Küssen verbringen. Sie schob mich von sich, zog ihre Shorts aus und setzte sich auf mich. So direkt ist sie nur selten. Gestern sind ihr wohl die Cocktails ein wenig zu Kopf gestiegen, aber es war… wow – mir fehlen die Worte, um das zu beschreiben. Mir wird schon wieder heiß, wenn ich an gestern Nacht denke, aber ich lasse Marle weiterschlafen. Sie war wirklich erschöpft heute Morgen.

      Schade, dass ich heute Mittag schon wieder einen Spieleinsatz zugesagt habe, sonst hätte ich bei dem schönen Wetter glatt eine Runde um den Schlachtensee laufen gehen können. Der Winter wird bestimmt wieder lang und kalt, so dass dann nur das Training im Fitness Studio bleibt.

      Und dann ist das Wochenende auch schon wieder vorbei. Morgen früh habe ich gleich einen Termin, der wohl nicht ganz einfach wird. Eine junge Frau, die mir irgendwie nicht aus dem Kopf geht. Sie wollte die Behandlung ursprünglich in Vollnarkose. Aber wegen zwei Füllungen, die entfernt und dafür Inlays eingesetzt werden, ist eine Vollnarkose ein viel zu hohes Risiko. Wegen so einer Kleinigkeit eine Vollnarkose zu verlangen, ist schon etwas merkwürdig. Sie meinte dazu noch, dass sie an Narkosen gewöhnt sei und davor keine Angst habe. Na, wenn sie vor Narkosen keine Angst hat, braucht sie doch vor der regulären Behandlung eigentlich auch keine Angst zu haben. Das ist schließlich weniger schlimm. Ich wurde aber aus ihr nicht schlau. Sie bettelte regelrecht um die OP, aber das Risiko, das ich damit einginge, ist für einen so geringen Eingriff nicht gerechtfertigt.

      Sie hatte wahnsinnig tiefe und weiche grau-blaue Augen, die aber in sich selbst versunken wirkten, so als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Besonders viel hat sie jedenfalls nicht geredet. Ich habe sie ausdrücklich gefragt, ob bei ihr alles in Ordnung sei und ob sie alles verstanden habe, was ich ihr erklärt habe, worauf sie aber nur jedes Mal mit einem knappen „Ja“ antwortete. Abends habe ich sogar meine Kollegin, die mit ihr beim Röntgen war, darauf angesprochen, ob die Patientin ihr auch so abwesend vorkam, worauf die Kollegin aber meinte „Im Gegenteil, das scheint eine sehr freundliche und aufgeweckte junge Frau zu sein.“ Wahrscheinlich habe ich mich geirrt. Auf jeden Fall muss ich morgen sehr vorsichtig sein. Dass die Patientin Angst hat, war nämlich nicht zu übersehen. Während des Termins hielt sie die ganze Zeit über ihre Finger ineinander verknotet, so fest, dass die Knöchel ganz weiß wurden. Als sie mir zum Abschied die Hand reichte, war diese ganz kalt. Wenn ich an Morgen denke, bekomme ich das Gefühl, sie beschützen zu müssen und sie zum Trost in den Arm nehmen zu wollen. Welche absurden Gedanken! Ich bin ihr Zahnarzt! Ist das schon Alterssenilität?

      Ich ziehe mich jetzt besser an und gehe zum Bäcker. Ein gutes Frühstück mit frischen Brötchen und einem starken, heißen Kaffee wird Marle bestimmt fit machen.

      Dienstag, 30. Oktober 2007

      Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Welt schneller dreht als sonst. Die letzten Tage vergingen so schnell, und mir sind dabei so viele Gedanken durch den Kopf gegangen.

      Der Termin am Montag, vor dem ich ein wenig Bedenken hatte, ist größtenteils besser verlaufen, als ich dachte. Als ich ins Behandlungszimmer kam, saß die Patientin bereits auf dem Stuhl. Zur Begrüßung rang sie sich ein gequältes, aber tapferes Lächeln ab, die Angst stand ihr in die Augen geschrieben. Dazu waren ihre Hände wieder eiskalt und sie ließ sie nicht einen Moment entspannt, sondern verknotete sie ineinander wie bereits beim letzten Termin.

      „Ich habe heute jemanden, der mich notfalls abholen könnte“, meinte sie auf meine Frage, ob alles gut bei ihr sei. Aber irgendetwas in mir sagte, dass das nicht stimmte.

      Unabhängig davon begann ich mit der Behandlung. Während die Betäubung einwirken musste, fragte ich sie, was sie denn beruflich mache.

      „Ich schreibe gerade an meiner Abschlussarbeit“ antwortete sie knapp.

      „Über welches Thema schreiben Sie denn?“ probierte ich es weiter, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

      „Ich brauche noch einen genauen Titel, aber über Zielvereinbarungen im Vertrieb.“

      „Aha. Und was haben Sie studiert?“

      „BWL“ Frau Sommers Antworten schienen immer kürzer zu werden.

      „Hier an der FU?“

      „Nein. In Ludwigshafen. Ich bin erst im August nach Berlin gezogen wegen der Abschlussarbeit.“

      Ich war wirklich überrascht. Zum einen über die knappen Antworten Frau Sommers. Ich wusste nicht, warum sie so kurz angebunden war, vermutete aber, dass ihre Gedanken wohl bei dem waren, was noch folgen sollte. Der Small-Talk lenkt Patienten normalerweise von der Behandlung ab und steuert deren Gedanken in eine andere Richtung. Dadurch wird die Angst – zumindest zeitweise – vergessen oder gemindert. Insbesondere bei Patientinnen funktioniert diese Methode sehr gut. Eine Frage reicht oft aus, und die Patientinnen plappern, wann immer es möglich ist, über dieses Thema weiter, erzählen dieses und jenes und kommen von einem auf das nächste Thema. Mir ist das ganz recht. Ich empfinde es meist als unangenehm, wenn ein längeres Schweigen in den Behandlungspausen entsteht. Inzwischen beherrsche ich deshalb die gängigen Small-Talk-Themen recht gut. Aber bei Frau Sommer gelang es mir nicht, sie in einen Redefluss zu bringen.

      Ebenso verwundert war ich darüber, dass sie gerade erst nach Berlin gezogen war, dazu noch aus der Pfalz, einer eher ländlichen Gegend, wie sie meinte. Sie machte nicht den Eindruck, als gehöre sie zu den Menschen, die schnell überall Anschluss finden und sich in einer pulsierenden Stadt wie Berlin wohlfühlen.

      Die typischen Berlinerinnen haben ihren eigenen unkonventionellen Kleidungsstil, der aber trotzdem dem hippsten Trend entspricht. Sie sind selbstbewusst, eigenständig und haben ein vorlautes Mundwerk – die typische Berliner Schnauze eben. „Mach ma Platz – ick bin hier!“ Nach außen hin wirken sie oft ein wenig ruppig, selbst Geschäftsfrauen in ihren schicken Designeranzügen haben diese Redeweise oft beibehalten. Sie lieben es, in schicken Clubs und Bars sich selbst zu präsentieren, mit Champagner und Cocktails anzustoßen – „Stößchen“ – und Bekannte zu treffen – Networking, die eigenen Netzwerke pflegen.

      In dieses Schema passt Frau Sommer aber gar nicht. Nicht nur wegen der Klamotten. Heute trug sie einen dunkelbraunen, weiten Jeansrock und dazu einen cremefarbenen Rollkragenpullover und schlichte Winterstiefel. Schon trendy – aber zu konventionell; schon selbständig – aber zu leise.

      Die Spritzen wirkten schließlich, sodass ich an die eigentliche Arbeit gehen konnte. Zuerst nahm ich mir den Zahn auf der linken Kieferseite vor, dann den auf der rechten. Soweit lief auch alles sehr gut. Ich konnte schnell und konzentriert arbeiten. Schließlich mussten nur noch die Provisorien eingesetzt werden. Dummerweise musste ich an diesem Tag die Vertretung für einen Kollegen übernehmen, der kurzfristig ausgefallen war. So hatte ich nur wenig Zeit für meine Termine, weil im anderen Behandlungszimmer die Patienten des Kollegen warteten, die nicht mehr erreicht werden konnten, um die Termine abzusagen und umzulegen. So stand ich leider etwas unter Zeitdruck und überließ meiner Assistentin zunächst das Einpassen der Provisorien, während ich bereits zu meinem nächsten Patienten ging. Ein Glück, dass der ebenfalls eine örtliche Betäubung bekam, die kurz einwirken musste, so konnte ich nochmals kurz nach Frau Sommer schauen und merkte, dass meine Assistentin mit den Provisorien nicht zurechtkam. Frau Sommer schien inzwischen völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende, aber trotzdem war sie in keiner Weise ärgerlich über das Problem meiner Assistentin, obwohl diese bestimmt schon länger als fünf Minuten versuchte, das eine Provisorium einzusetzen. Sie schaute mich nur mit ihren