Evadeen Brickwood

Abenteuer Halbmond


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ich genug. Nicht, dass die neue Schule viel besser gewesen wäre. Die Lehrer waren raubeinig und zynisch, aber zumindest musste ich mich nicht mehr mit Herrn Konrad und Papiergeschossen herumärgern. Ich konnte auch raubeinig und zynisch sein, wenn ich musste.

      Es gab richtig nette Jungs in unserer Klasse. Walter schielte leicht und hatte eine Hakennase. Er war groß und ungelenk, aber hilfsbereit und angenehm normal. Tarek war Deutsch-Algerier, hübsch, modebewusst und reserviert.

      Wahrscheinlich verwirrte es ihn, dass er eigentlich Jungs mochte. Tarek wohnte mit seiner Mutter in einer Wohnung in der Straße beim Bundesverfassungsgericht. Das war nicht weit von der Schule und wir verbrachten dort oft die Freistunden.

      Zu unserer Gruppe zählte auch Angie. Leider mochte die Großmutter, bei der sie wohnte, weder moderne Kleidung noch die psychedelische Kultur der siebziger Jahre. Angie war plump, trug eine altmodische Brille und wollte endlich ausziehen.

      “Wir hatten doch gestern noch Cola.” Tarek kramte im Kühlschrank der engen und sehr sauberen Küche herum. Vier saubere Gläser standen schon auf dem Tablett.

      “Apfelsaft tut’s auch,” sagte Angie gutmütig.

      Wir saßen meist in seinem kleinen und sehr sauberen Zimmer und redeten darüber, wie sehr uns die Lehrer auf die Nerven gingen. Der Lehrer, der angeblich Adams/mein Kamerad gewesen war, hatte sich versetzen lassen. Am liebsten hätte ich mehr über Tareks Kultur erfahren und ihm von meinem Radschputen-Erlebnis erzählt. Aber mit Algerien wollte Tarek nichts zu tun haben, und Reinkarnation war bestimmt auch nicht seine Sache. Wir vier bildeten bald eine Clique aus der Renate sich ‘raushielt.

      “Ne, ich mach’ lieber mein eigenes Ding,” sagte sie, als ich ihr von unseren Freistunden erzählte.

      “Solange du mir nicht den Kopf abreißt, wenn ich mal keine Zeit für dich habe,” sagte ich.

      “Sei nicht albern,” meinte sie zornig und stapfte davon.

      Leider hatte ich zuhause begeistert von unserer Gruppe erzählt und außer dem Thema Jungs fuchste meine Mutter eine andere Sache noch mehr. “Ich bin ja froh, dass du endlich Freunde gefunden hast, aber warum müssen es denn unbedingt Mohammedaner sein?” Sie meinte natürlich Tarek damit.

      “Wieso denn nicht?” Ich rollte mit den Augen.

      “Die sind eben… anders.”

      “Für dich sind alle Leute anders. Ich bin nicht so wie du. Mir macht das nichts aus. Außerdem ist Tarek kein praktizierender Moslem. Sein Vater ist Arzt in Hamburg und seine Mutter ist Deutsche.”

      Ich konnte mir ein wenig Sarkasmus nicht verkneifen.

      “Sogar, wenn er es wäre. Keine Angst, ich werde nicht so schnell einen Mohammedaner heiraten und dich vor ‘den Leuten’ blamieren,” stichelte ich. “Auch, wenn ich mit siebzehn schließlich heiraten kann, wen ich will.”

      Sie klagte immer öfter, was die Leute über dies oder jenes sagen könnten. Paula prustete etwas zu übertrieben vor Lachen und Mutti machte ein beleidigtes Gesicht. “Wirst du schon wieder frech, Isabell? Das habe ich überhaupt nicht gemeint.”

      “Egal,” wehrte ich ab. “Muss’ jetzt sowieso geh’n.”

      Zu Oma Bertrands Wohnung. Da konnte ich so sein wie ich wollte. Oma fragte mich nie danach, wer meine Freunde waren. Sie war nur froh, wenn ich da war.

      Als ich mich gerade in der neuen Schule eingelebt hatte, passierte etwas ganz unfassbares: Papa wurde krank und starb.

      Kapitel 2

      Das winterliche Begräbnis erschien mir wie ein nebeliges Gewirr an unwirklichen Aktivitäten. Tanten und Cousinen machten viel Getue um meine Mutter. Wir Kinder wurden ignoriert und mussten nett zu allen sein. Da war keine Zeit zum Trauern.

      Eine Woche bevor Papa starb, konnte ich dieses seltsame Gefühl nicht abschütteln, dass etwas Schreckliches passieren würde. Er lag bewusstlos im Krankenhaus. Angeblich auf dem Weg der Besserung. Mein Onkel fuhr uns nach einem Besuch dort nach Hause.

      “Was willst du mit dem Auto machen, wenn er stirbt,” fragte er meine Mutter gedankenlos. Hieß das etwa, sie wussten etwas, das ich nicht wusste? Heiße Wut-Lava stieg in mir hoch.

      “Was fällt die ein, so zu reden?” fuhr ich ihn an. ”Noch ist er nicht tot. Ihr seid alle so materialistisch! Alles woran ihr denken könnt ist Geld und materielles. Habt ihr denn gar kein Herz?”

      Meine Mutter starrte mich schuldbewusst an und ihr Bruder wusste nicht was er sagen sollte. Meine Schwestern schwiegen. Das machte mich noch wütender. “Halt’ an. Lass’ mich hier ‘raus,” forderte ich.

      Bevor meine Mutter mich zurechtweisen konnte stand ich schon im Schneematsch draußen. Es war mir egal, dass ich ganz taub wurde vor Kälte, als ich durch die verschneiten Straßen zum Park eilte. Meinem vertrauten Zufluchtsort.

      Die Rasenflächen waren etwas aufgetaut und der Boden war sumpfig. Es war mir egal. Ich heulte ziemlich viel, als ich so durch das matschige Grass watete. Es war besser alleine zu sein beim Heulen.

      Als ich halb-erfroren zu Hause ankam, war Oma Heydenreich, meine Großmutter mütterlicherseits, schon da und klapperte geschäftig in der Küche herum. Sie stellte schweigend einen Teller heiße Suppe vor mich hin. Niemand erwähnte den Vorfall im Auto. Es wurde nicht viel geredet bei den Heydenreichs. Dafür gab es immer Essen.

      Das Telefon klingelte und wir hörten gedämpfte Stimmen im Flur. Das Krankenhaus. Papa war gerade gestorben…

      Am nächsten Morgen machte ich mich wieder Richtung Schlosspark auf, aber ich machte nicht halt. Ich ging weiter durch den Wald, dann über die schneebedeckten Felder. Es hatte wieder geschneit über Nacht. Ich stampfte durch den weichen Schnee, der mich tröstend einhüllte.

      Danach hatte ich die Trauer im Griff.

      Zum Entsetzen aller war ich stundenlang unterwegs gewesen. Meine Mutter schien weniger gefasst. Ich sah sie kaum noch bis zur Beerdigung und meine Schwestern sogar noch weniger. Wir sprachen nicht darüber was passiert war. Nur meine alte Oma Bertrand und ich trösteten uns gegenseitig, entfernt von all den Tanten und Cousinen. Auf den Gedanken mit Dr. Albrecht zu sprechen kam ich erst gar nicht.

      Oma Heydenreich war rundum freundlich und pragmatisch. Sie hatte schon viele Angehörige begraben. Bekam man da Übung mit der Zeit?

      Leider reichte ihre Großherzigkeit nicht ganz für Menschen anderen Glaubens aus. Vor allem nicht, wie sich herausstellte, für die Familie meines Vaters.

      Wenn sie aus ihrem kleinen Dorf bei Heidelberg zu Besuch kam, hatte sie entweder gerade eine Wallfahrt nach Lourdes hinter sich oder war gerade dabei eine solche zu planen. Sie brachte Naschereien für ihre Enkelkinder mit, die ein cleverer Geschäftsmann an die Frommen dort verscheuerte. Eine Flasche Weihwasser durfte auch nicht fehlen.

      Sie erzählte uns mit Vorliebe von alten Damen in Rollstühlen, die durch das Wasser geheilt wurden, von Päpsten und Heiligen und Stigmata.

      Aber Oma Heydenreich hatte eine Vergangenheit. Während sie mit siebzehn nämlich im Haushalt einer wohlhabenden jüdischen Familie in Frankfurt gearbeitet hatte, ereignete sich das Unaussprechliche, was in der Geburt meiner Mutter resultierte. Der Anfang aller Schmähungen, die meine Mutter in dem kleinen Dorf erdulden musste, und der zu Oma Heydenreichs lebenslanger Sündentilgung führte.

      Sie hatte danach den erstbesten Mann geheiratet, den sie für geeignet hielt, ihre angeschlagene Ehre wieder auferstehen zu lassen. Der war gewalttätig und schenkte ihr zum jährlichen Hochzeitstag einen neuen Sohn, bevor er im Krieg verstarb. Sechs Söhne insgesamt, was ihr ein silbernes Mutterkreuz einbrachte. Wenn Oma Heydenreich mal nicht gerade ihren Heiligenschein polierte, regierte sie den Haushalt vom Schrein ihrer Küche aus.

      “Hanne, du kannst doch die Trauerfeier nicht in einer evangelischen Kirche abhalten. Das kommt gar nicht in Frage,” kommandierte sie