Paula Wuger

Räderwerk


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konnte sich das von der Figur her leisten, dachte Judith und wusste, dass sie mit ihren 34 Jahren etwas vorsichtiger sein musste.

      „Sie hatten doch einen Traum in den langen Jahren ihrer Gefangenschaft, Ben“, sagte der Reporter, der kaum älter als sein Interviewpartner zu sein schien.

       Der junge Mann zog die Mütze noch ein Stück weiter in die Stirn, schloss die Augen und meinte dann: „Ich habe mir sehnlichst gewünscht, in einer Blumenwiese zu liegen und in den weiten, blauen Himmel zu schauen. Es war immer enger, immer einsamer geworden in der Gefangenschaft. Manches Mal fürchtete ich, er werde mich töten. Er hatte alles Interesse an mir verloren. Ich war nur mehr eine Last für ihn.“

      „Je älter Sie wurden.“

      „Als ich erwachsen wurde, wollte er mich nicht mehr.“

      „Sie deuten einen pädophilen Hintergrund an“, stellte Manuel fest.

      „Irgendeinen Grund muss die Entführung ja gehabt haben“, überlegte Judith. „Geldforderungen wurden keine gestellt …“

      „Und dann hat ihn der Entführer flüchten lassen und sich vor den Zug geworfen.“

      „Das macht wenig Sinn, ich weiß. Aber wir kennen keine andere Version.“

      „Vielleicht kannst du deinen Chef überreden, in der Sache ermitteln zu lassen“, schlug Manuel vor.

      „Ich weiß nicht. Familie Österreich hat keine Rechte an der Verwertung dieses Falles.“

      „Sie sind schon in der Blumenwiese gelegen, Herr Wesely?“, fragte der Interviewer.

      „Nein, davon träume ich noch immer. Ich versuche im Augenblick mit mir und der Welt zurechtzukommen“, erklärte der junge Mann.

      „Was ist das Schwierigste daran?“

      „Dass ich plötzlich ganz allein bin. Ein siamesischer Zwilling, der von seinem Bruder getrennt wurde und endlich frei ist.“

      „Wobei der Bruder ums Leben gekommen ist.“

      „So könnte man es sagen. Natürlich hat es sich nicht um meinen Bruder gehandelt. Ansonsten hilft man mir sehr.“

      „Der siamesische Zwilling ist ein gutes Bild“, fand Judith.

      „Das nicht von Wesely stammt. Der Professor hat bei der Stelle genickt, als ob er etwas abhaken würde. Das haben sie ihm eingetrichtert.“

      „Der Psychiater.“

      „Emmerich Holzmeister, der Wesely seit seiner Flucht betreut. Irgendjemand muss das sofort nach dem Auftauchen des jungen Mannes organisiert haben.“

      „Es klingt verdächtig, wie du es sagst“, überlegte Judith, „könnte aber ganz harmlos zu erklären sein. Jemand von der Polizei, mit Verbindungen zu Cramar, könnte diesen informiert haben und …“

      „Ja, das ist möglich“, sagte Manuel Glockner und gähnte, dann fragte er Judith: „Sind nicht auch wir siamesische Zwillinge?“

      „Wie kommst du darauf?“, fragte Judith.

      „Wir sind im Sternzeichen des Zwillings geboren, und ich bin nichts ohne dich.“

      „Och, das würde ich nicht sagen. Du gehst durchaus eigene Wege.“

      „Du meinst beruflich?“

      Judith nickte.

      „Meine Potenz hätte darunter gelitten, wärst du länger meine Chefin geblieben.“

      „Und jetzt ist Kozik dein Chef.“

      „Ich brauche einen Chef. Das entlastet mich.“

      „Einen väterlichen Chef.“

      „Du meinst …“

      „Was?“

      „Dass ich auch beruflich siamesischer Zwilling sein möchte?“

      „Ich habe nichts dergleichen gesagt.“

      „Aber?“

      „Kein Aber.“

      „Ich würde gerne mit dir verschmelzen. Jetzt und sofort“, sagte Manuel, und Judith erkannte am Glanz seiner braunen Augen, dass er erregt war.

      „Gegen Verschmelzungen dieser Art habe ich nichts einzuwenden“, erwiderte Judith. „Sie sind vorübergehend und durchaus …“

      „SSScchhhh. Genug geredet“, flüsterte Manuel, setzte sich auf den rechten Arm von Judiths Polstersessel und begann sie zu küssen.

      Dann wanderten seine Lippen höher, zu ihrer Nase und den Augen. Er streichelte ihren Nacken, löste ihr zu einem Chignon hochgestecktes blondes Haar, rutschte dann auf ihre Knie und zwischen diese.

      „Du bist heiß wie …“

      „Wie Manuel. Wenn er auf dich heiß ist.“

      „Besser hätte ich es nicht sagen können.“

      „Wenn die Geschichte mit Ben Wesely stimmt, hatte er noch nie eine Frau.“

      „Das ist anzunehmen.“

      „Stell dir vor, er käme zu dir, und du müsstest ihm alles beibringen.“

      „Worauf willst du hinaus, Manuel?“

      „Stell dir vor, ich bin Ben Wesely und du bist, du bist …“

      „Judith Steyn, die nie und nimmer einen unschuldigen Knaben verführen würde.“

      „Sicher nicht?“

      „Sicher nicht.“

      „Aber …“

      „Gut, dann leg dich hin! Ich werde mir etwas einfallen lassen.“

      Manuel Glockner atmete tief durch und ließ sich auf den Teppichboden fallen.

      „Aber eins müssen wir noch klären“, zögerte Judith die Zärtlichkeiten hinaus.

      „Du bekommst alles, was du willst.“

      „Kümmere dich um meine Armbanduhr. Sie funktioniert nicht mehr.“

      „Jaja. Komm schon!“

      Kurz nach acht Uhr meldete sich Brigitte Wesenauer und fragte Judith, ob sie am Vormittag nach Wien kommen könne. Der Chef wolle mit ihr sprechen.

      Obwohl sie nur vier Stunden geschlafen hatte, fühlte sich Judith energiegeladen, als sie von ihrer Wohnung in Bad Vöslau zum Redaktionshochhaus am Donaukanal aufbrach.

      Judith Steyn arbeitete für die Tageszeitung Familie Österreich, recherchierte in rätselhaften Kriminalfällen und berichtete unter dem Pseudonym Louise Gerlach. Pfefferspray ist ihr Parfum war das Motto, das Hans Waldheim für sie gewählt hatte.

      „Sie warten schon auf Sie“, sagte die wie immer untadelig wirkende Vorzimmerdame.

      „Sie?“, fragte Judith.

      „Der Chef und Erwin.“

      „Aber natürlich. Ich habe ihm Frolic mitgebracht.“

      Und tatsächlich. Sobald Judith an der Tür zu Hans Waldheims Arbeitsraum geklopft und diese einen Spaltbreit geöffnet hatte, stürzte schon der schwarze Riesenschnauzer Erwin auf sie los, in höchsten Tönen quietschend wie ein neugeborener Welpe. Dabei war er schon fünf Jahre alt.

      Judith musste zuerst den Hund tätscheln und ihn mit seiner Lieblingsspeise, kleinen Ringen aus getrocknetem Fleisch, versorgen, bevor sie ihren Chef begrüßte, der sich von seinem großflächigen Schreibtisch erhoben und ein paar Schritte auf sie zu gemacht hatte.

      Der sonst so dynamische 69-Jährige wirkte an diesem Vormittag müde. Seine Haut hatte den olivfarbenen Schimmer der Erschöpften.

      „Schön, dass Sie