Paula Wuger

Räderwerk


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gut. Sie müssen nicht darüber reden. Ulf Pichler arbeitet im Lagerhaus.“

      Im Großmarkt des Lagerhauses in der Rauchenwartherstraße erkundigte sich Judith bei der Frau an der Kassa nach Herrn Pichler. Die Frau im grünen Hemd griff nach dem Telefonhörer und bat ihn zum Ausgang.

      Dem kräftigen Mann mit dem dichten Schnurrbart, der nach längerer Zeit erschien, stellte sich Judith als Journalistin vor. Sie bot ihm ein Honorar für das Interview an und fragte, welche finanziellen Vorstellungen er habe.

      „Keine. Ich darf nicht mit Presseleuten reden“, wehrte er ab und versuchte dabei freundlich zu bleiben, denn Judith schien ihm zu gefallen, obwohl oder weil sie ihn beinahe um einen Kopf überragte. Judith Steyn war über einen Meter achtzig groß.

      „Dann hat wohl ein Gespräch keinen Sinn“, zeigte sich Judith enttäuscht.

      „Das würde ich nicht sagen“, meinte der etwa Vierzigjährige und blickte in Judiths blaue Augen.

      „Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.“

      „Das kann man wohl sagen. Ich habe das Ganze – ihn – die Reste von ihm – zuerst für ein Kleiderbündel gehalten, das jemand entsorgt hat, dann aber bin ich stehengeblieben und habe mir … Ich muss zugeben, dass ich mich übergeben habe. Der Kopf lag abgetrennt auf der anderen Seite der Geleise.“

      „Und es war erkennbar, um wen es sich handelt?“

      Der Mann nickte stumm.

      „Merkwürdig“, überlegte Judith. „Bei dem Tempo, mit dem die Bahn unterwegs ist. Oder war es ein Lokalzug, der in Himberg gehalten hat und dann erst langsam wieder angefahren ist?“

      „Ich weiß nicht, wie lange er dort gelegen hat“, meinte der Mann. „Aber jetzt darf ich wirklich nichts mehr sagen. Herr Cramar von Österreich aktuell hat mich unter Vertrag.“

      „Und wie sieht das finanziell aus?“

      „Mehr als zwei Monatsgehälter.“

      „Nicht schlecht.“

      „Ich hab ihn ja nur vom Sehen gekannt.“

      „Herrn Hebenstreit?“

      Wieder nickte der Mann. „Er hat in anderen Kreisen verkehrt.“

      „Sie meinen …“

      „Bessere Leute und irgendwie anders.“

      Judith wollte nicht weiter nachfragen, bedankte sich und verabschiedete sich von dem Mann, dann wandte sie sich wieder an die Kassiererin und fragte nach Friedhofskerzen.

      Vor die Wahl gestellt, ob sie sie sich für eine echte Kerze oder für eine mit Batterie gespeiste, flackernde Imitation entscheiden sollte, griff sie des Fahrtwindes wegen, den die Züge erzeugten, zur Nachbildung.

      Als sie wieder zum Bahndamm fuhr, sah sie in der Ferne einen dunklen Wagen, dem ein älterer Herr entstiegen war, der sie an Hans Waldheim erinnerte.

      Der Mann kniete eine Zeitlang vor der Unglücksstelle, dann erhob er sich, wischte über die Knie seiner dunklen Hose und ging zurück zum Auto, das sich kurz darauf in Bewegung setzte.

      Obwohl er in die andere Richtung fuhr, konnte Judith noch das Nummernschild lesen. Eine Wiener Nummer. Waldheims Nummer. Ihr Chef war hierher gefahren, um des toten Entführers zu gedenken.

      KAPITEL 2

      Manuel kam einige Minuten nach 23 Uhr in die gemeinsame Wohnung.

      „Ein Glück, dass man den Jungen bald ins Bett schickt“, sagte er und fragte Judith, ob sie noch Lust auf einen Spaziergang durch das nächtliche Bad Vöslau habe. „Es wird erst jetzt angenehm kühl“, sagte er.

      Judith gefiel der Vorschlag, und die beiden wanderten die Florastraße entlang zum Kurpark. In der kühlen, dunklen Luft schwebten Glühwürmchen, und Judith blickte zum Himmel, auf der Suche nach Sternschnuppen. Doch der beinahe volle Mond schien zu hell.

      „Schade“, sagte sie. „Ich hätte mir gerne etwas gewünscht.“

      „Was denn?“, fragte Manuel, der sich bei ihr eingehängt hatte.

      „Ich würde gerne im Park des Thermalbads verschwinden, so wie in den Ferien in der Kindheit, für Tage, ja Wochen, lesen, baden, Eis essen. Und an nichts denken.“

      „Das können wir jederzeit machen. Wir müssen nur Urlaub nehmen.“

      „Das machen wir. Wenn dieser Fall abgeschlossen ist.“

      „Fall? Du sprichst von einem Fall?“

      „Ich will wissen“, erklärte Judith, „was es mit der Entführung Ben Weselys auf sich hat und warum mein Chef sich an den Ort fahren lässt, an dem der Entführer gestorben ist, dort niederkniet …“

      „Das ist wohl einige Fragen wert“, fand Manuel.

      „Und bei dir? Was war heute bei dir los?“

      „Gert und ich haben Wesely zu Verhandlungen mit einem deutschen Filmproduzenten begleitet. Er wird ein Buch schreiben, und dieses soll verfilmt werden.“

      „Hat er schon seine Eltern getroffen?“

      „Sie waren auch dort. Aber …“

      „Ja?“

      „Sie reden nicht miteinander.“

      „Wie meinst du das?“

      „Schau, eine Fledermaus! Jetzt wird es unheimlich. Vampire fliegen durch die Lüfte, auf der Suche nach dem Blut unschuldiger Mädchen.“

      „Also habe ich nichts zu befürchten.“

      „Fühl dich nicht allzu sicher!“

      Bei diesen Worten setzte er seine Lippen an Judiths Hals und begann zu saugen.

      „Au, das brennt“, rief Judith und schob seinen Kopf weg. „Den Fleck werde ich mit Make-up überdecken müssen. Du bist unmöglich!“

      „Willst du dich nicht revanchieren?“

      „Das hättest du wohl gerne.“

      „Bitte!“

      „Nein.“

      „Dann erzähl ich dir nichts mehr.“

      „Dann lässt du es bleiben.“

      Die beiden gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis Manuel es nicht mehr aushielt.

      „Die beiden Eltern reden nicht miteinander, und Ben Wesely ignoriert sie.“

      „Merkwürdig.“

      „Die Eltern sind geschieden und absolut unmöglich. Der Vater trinkt, die Mutter …“

      „Ja, was?“

      „Sie frisst jeden Mann, dem sie begegnet bei lebendigem Leib.“

      „Auch dich?“

      „Mit den Augen.“

      „Kann ich verstehen. Es wäre interessant, mit den beiden zu reden.“

      „Geht nicht. Sie stehen bei Cramar unter Vertrag.“

      „Ein dichtes Netzwerk.“

      „Sozusagen. Au, das habe ich jetzt ganz übersehen.“

      „Wenn ich einen Fleck habe, sollst du nicht ungeschoren davonkommen“, sagte Judith und löste ihre Lippen von Manuels Hals. „Und jetzt drehen wir um. Ich möchte etwas trinken …“

      „Und essen.“

      „Zu dem Prachtwetter passen Weißwein und Grammelschmalzbrote, leicht gesalzen und gepfeffert.“

      „Aber das haben wir leider nicht“, bedauerte Manuel.

      „Du