Richard Mackenrodt

Azahrú


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200.000 Kilokalorien. Wo will er die finden?«

      Koumamá wandte sich Luise zu. »Dein Franz ist ein kluger Mann. Aber er weiß nicht alles. Ich möchte euch noch etwas zeigen.« Koumamá führte sie zu einer Wand, vor der sie ungläubig stehen blieben. Darauf waren Männer abgebildet, die Schwimmbewegungen ausführten, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ein anderer hatte mit einer Lanze einen Fisch aufgespießt. Daneben waren Bäume dargestellt, die üppiges Laub trugen. »Das waren mal blühende Landschaften«, hörte Franz sich sagen. »Die Geschichte der Wüste muss völlig neu geschrieben werden!«

      »Sie hatten Seen«, fügte Luise staunend hinzu. »Wälder. Wie kann das nur sein?«

      »Landschaften verändern sich«, sagte Koumamá. »Wo heute noch ein Strauch steht, gibt es nächstes Jahr vielleicht schon nichts mehr, das an ihn erinnert. Wir beobachten, wie die Wüste sich Jahr für Jahr ein wenig mehr ausbreitet.«

      »Ich weiß jetzt schon, was passiert, wenn ich in München an der Universität darüber einen Vortrag halte: Die erklären mich für verrückt!« Franz fasste Luise aufgeregt an den Schultern, sie lachten sich an. Bis Luises Lachen erstarb und ihre Miene sich verzerrte. Franz war so im Rausch der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass er es nicht bemerkte. Koumamá dagegen begriff im selben Moment, dass etwas nicht stimmte. Franz blickte auf seine Füße hinunter. Seine Schuhe und seine Hosenbeine waren nass, als wäre er in eine Pfütze gesprungen.

      »Meine Fruchtblase«, sagte Luise.

      Franz hielt noch immer ihre Schultern fest. Er starrte sie an. »Nein«, sagte er leise.

      »Doch, Franz.«

      »Vielleicht ist es nur eine Blasenschwäche!«

      »Nein«, sagte Luise mit erstaunlicher Klarheit. »Es ist so weit.«

      »Liebste, wir bringen dich hinunter. Was immer passieren wird, es passiert im Tal und nicht hier oben.«

      Luise lächelte schwach. »Der Weg, lieber Franz. Das Geröll.« Sie hob ihr Gewand ein wenig an. Blut lief in einem dünnen Rinnsal über ihren Schenkel.

      »Wir legen dich hin!« rief Franz. »Auf den Boden!«

      Koumamá half ihm. Gemeinsam betteten sie Luise auf die Steine. Franz schob einen Rucksack unter ihren Kopf.

      »Ihr behaltet jetzt die Nerven, verstanden?« sagte Luise. »Ich war bei der Geburt von Dafinah, ich weiß, was zu tun ist. Ihr macht ganz genau das, was ich euch sage.«

      »Ja, Liebes, machen wir!« Franz zitterten die Hände. Er atmete tief durch.

      »Sieben Monate sind wenig, aber manche Kinder überleben das«, sagte sie.

      »Koumamá«, bellte Franz, »bringen wir das Baby auf die Welt! Wirst du mir helfen?«

      »Ruhig, Franz«, sagte Koumamá. »Natürlich helfe ich euch!« Aber Koumamá war selbst nicht so ruhig, wie er es gerne gewesen wäre. Nur Luise behielt wirklich die Nerven.

      »Mich kriegt man nicht kaputt, Franz, das weißt du doch. Alles wird gut.«

      Es zog sich lange hin, sehr lange. Das Platzen der Fruchtblase bedeutete nicht, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Luise hatte ihre Wehen noch in Abständen von mehreren Minuten. Das blutende Rinnsal wollte nicht aufhören zu strömen und bereitete Franz immer größere Sorgen. Er versuchte es mit einem Stück Stoff zu stoppen, aber das funktionierte nicht. Die Männer wuschen sich immer wieder die Hände mit dem Wasser, das sie als Verpflegung mitgenommen hatten - die einzige armselige Maßnahme, die möglich war, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Erst nach einer Ewigkeit wurden die Wehen heftiger und kamen schneller. Luise presste und atmete rhythmisch. Franz kühlte ihre Stirn immer wieder mit einem in Wasser getränkten Taschentuch, ihre Haare waren schweißverklebt. Der Muttermund begann sich zu öffnen. Koumamá war nicht darauf vorbereitet, so etwas jemals zu Gesicht zu bekommen. Ihm wurde schummrig zumute, aber er schüttelte sich kurz wie ein nasser Hund und hatte sich wieder unter Kontrolle.

      »Ich sehe den Kopf!« rief Franz.

      »Wenn es nicht von alleine kommt«, stöhnte Luise, »dann zieht ihr es raus, hört ihr? Aber vorsichtig. Achtet auf die Nabelschnur! Wenn es draußen ist, nehmt ihr ein Messer und durchtrennt sie!«

      Der Kopf des Babies wurde langsam ins Freie gedrückt. Da lief auf einmal ein Schwall von Blut aus Luise heraus, der immer noch stärker wurde. Ihre Augenlider begannen zu flattern.

      »Luise!« schrie Franz. »Was sollen wir machen?!«

      Sie antwortete nicht. Er klopfte ihr mit der Hand auf die Wangen, immer heftiger.

      »Luise! Bleib bei mir! Wir schaffen das! Komm schon!«

      Die Lider flatterten nicht mehr, die Augen waren geschlossen.

      »Franz! Ich brauche Hilfe!« Koumamá versuchte das Baby heraus zu ziehen, war dabei aber viel zu vorsichtig. »Ich habe Angst, ich tue ihm weh!«

      Franz klemmte die Hände unter die Achseln des Säuglings und zog. Es bewegte sich nicht. Er zog fester. Und noch fester. Mit einem saugenden Geräusch löste sich der kleine Körper vom Mutterleib, und Franz kippte, mit ihm in den Händen, fast hintenüber. Es war, als hätte man einen Stöpsel gezogen, denn der Blutschwall, der sich jetzt aus Luises Innerem ergoss, war ein Wasserfall aus Blut. Aber da war sie bereits tot.

      Es dauerte lange, bis Franz das begriff. Er drückte Koumamá das Baby in die Hände und prüfte ihren Atem, ihren Puls. Nichts. Er beatmete sie. Nichts. Er versuchte eine Herzdruckmassage, obwohl er überhaupt nicht wusste, wie man das machte. Er konnte vor Tränen und Blut und Schweiß kaum noch etwas sehen. In seinen Ohren rauschte es so laut, dass er seine eigenen Schreie nicht mehr hörte. Koumamá packte ihn am Arm. Franz drehte sich zu ihm um, mit einem wirren Blick aus tiefroten Augen.

      »Franz, sie ist tot«, sagte Koumamá. »Luise ist von uns gegangen.«

      »Blödsinn!« sagte Franz. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. »Luise kriegt man nicht kaputt! Sie ist unzerstörbar! Sie lebt!«

      Koumamá hatte längst die Nabelschnur durchtrennt und versucht, das Baby halbwegs zu säubern. Er war der einzige, der den ersten Schrei des kleinen Jungen hörte, und der Anblick dieses kleinen, blutverschmierten Wunders - so grauenhaft die Umstände seiner Geburt auch sein mochten – entlockte ihm ein kurzes, bitteres Lächeln.

       So habe ich vor langer Zeit die Welt betreten. Auf einem Hochplateau im Aïr-Gebirge, inmitten der Wüste Nordafrikas, als Sohn von Franz und Luise, die bei meiner Geburt verschied.

       TEIL II: LEO

       Fremdenlegionäre

      1

      Koumamá wickelte ein Tuch um das Baby. Dann räumte er seinen Rucksack aus und legte das kleine, lebende Bündel hinein. Franz saß mit dem Rücken an der Wand, auf die vor vielen tausend Jahren jemand schwimmende Männer gemalt hatte. Er streckte die Beine von sich und starrte auf das Blutbad, das einmal seine Frau gewesen war. Aber er sah nicht aus wie jemand, der noch etwas wahrnahm. Er war selbst so blutdurchtränkt, dass man ihn für tot gehalten hätte, wenn nicht sein Brustkorb sich immer wieder gehoben hätte.

      »Franz, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, begann Koumamá. »Aber wir müssen ins Tal und dein Baby versorgen. Um Luise kümmern wir uns morgen.«

      Es war nicht ersichtlich, ob Franz von diesen Worten etwas mitbekam. Er rührte sich nicht. Koumamá entschied, ihm den letzten Schlauch mit Wasser hier zu lassen. Es hatte keinen Sinn, den Freund jetzt mitzunehmen. Er bedauerte, nichts zu haben, was er über die Leiche hätte legen können, und hoffte, dass keine Geier kommen würden. Der Abstieg war schwierig. Auf dem Geröll musste er jetzt besonders aufpassen, denn auf das Baby zu fallen, war das letzte, das er riskieren wollte. Dazu kam, dass der Kleine sich im Rucksack nicht wohlfühlte. Er begann zu schreien, kaum dass Koumamá aufgebrochen