Richard Mackenrodt

Azahrú


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nahm ihn auf die Arme, wiegte ihn beim Gehen sachte hin und her und erzählte ihm mit besonders tiefer, einschläfernder Stimme Geschichten aus seinem Leben und aus der Geschichte seines Volkes. Aber das Kleine schrie trotzdem wie am Spieß. Als er sich dem Lager näherte, war es schon fast dunkel. Das Blut, das an ihm klebte, war längst getrocknet. Er sah zum Fürchten aus. Die erste, die ansatzweise begriff, war Fatou, die sich im Laufschritt zwischen den anderen hindurch drängte.

      »Ist sie am Leben?« rief sie. »Bitte sag, dass sie lebt!«

      Er starrte sie nur an. Fatou schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen, so dass ihr ganzer Körper geschüttelt wurde.

      Im Zelt entblößte sie ihre Brust und gab sie dem Baby. Da endlich hörte der Kleine auf zu schreien und begann, seinen Hunger zu stillen. Wenig später sank er völlig erschöpft in tiefen Schlaf.

      Im Morgengrauen brach Koumamá wieder auf, gemeinsam mit einem halben Dutzend Männer, denn zum einen würden sie Luise transportieren müssen, zum anderen war ihm nicht klar, ob Franz in der Lage sein würde, den Berg hinab zu steigen. Gegen Mittag erreichten sie das Hochplateau. Koumamá hatte erwartet, dass Franz noch immer am Felsen sitzen würde, die starren Augen auf seine tote Frau gerichtet, aber stattdessen kam er ihnen entgegen. Sein Gesicht hatte er inzwischen gesäubert, aber die gandoura, die er trug, war steif von Luises getrocknetem Blut. Koumamá wollte weiter, um sie zu holen, aber Franz sagte, er habe sie bereits begraben. Er hatte eine kleine Höhle gefunden und sie hinein gelegt. Dann hatte er die Höhle mit Steinen zugemauert. Dort oben war sie gestorben, dort sollte sie bleiben.

      2

      Franz war kaum ansprechbar. Er verließ sein Zelt nur, um sich zu entleeren. Fatou und Koumamá besuchten ihn jeden Tag, brachten ihm zu essen und zu trinken. Am dritten Tag brachten sie ihm seinen Sohn. Er sah ihn sich an, aber auf den Arm nehmen wollte er ihn nicht.

      »Ich kann das nicht«, sagte er nur.

      Koumamá respektierte das und ließ ihn in Ruhe. Er meinte, Franz würde ein wenig Zeit brauchen. Die solle man ihm geben. Irgendwann würde er er sein Kind schon haben wollen.

      Am vierten Tag brachte Koumamá das Mittagessen, aber Franz war nicht da. Koumamá setzte sich vor das Zelt und wartete. Das Essen wurde kalt, und Franz kehrte nicht zurück. Koumamá fand ihn auf dem Kamm einer Düne, wo er saß und hinüber blickte zum Aïr-Gebirge. Er setzte sich dazu. Wortlos. Lange Zeit sagte keiner von beiden ein Wort.

      »Ich bin schuld«, sagte Franz.

      »Bist du nicht«, widersprach Koumamá.

      »Ich wusste, sie ist unvernünftig. Dass sie manchmal jemanden braucht, der sie hindert, etwas zu tun. Ich hätte dieser Jemand sein müssen. Hätte sagen müssen, wir gehen zurück nach Deutschland. Oder wenigstens: Du kommst nicht mit auf diesen verfluchten Berg!«

      »Wenn sie etwas wollte«, sagte Koumamá, »konnte man sie nicht abhalten. Du hast es versucht.«

      »Sie hätte so jemanden gebraucht.«

      »Den hätte sie aber nicht geheiratet.«

      Franz schwieg.

      »Willst du dem Kleinen nicht langsam einen Namen geben?«

      Franz antwortete nicht.

      »Wir können ein Geburtsritual durchführen nach Art unseres Volkes.«

      »Danke«, erwiderte Franz. »Aber er ist kein targi. Genauso wenig wie ich einer bin.«

      »Möchtest du ihn sehen? Er hat deine blauen Augen.«

      Franz stand nur auf und ging die Düne hinunter, zurück zum Lager.

      3

      Er wusch sich nicht mehr. Wechselte nicht mehr die Kleidung. Das fiel zunächst keinem auf. In der Wüste dauerte es lange, bis man anfing zu stinken. Aber er aß und trank zu wenig. Er magerte ab. Rasierte sich nicht mehr. Die Tage verbrachte er ohne Antrieb. Nichts hätte ihn weniger interessieren können als seine Forschung. An manchen Tagen sprach er kein einziges Wort, und außer Fatou und Koumamá wagte es keiner mehr, ihn noch anzusprechen.

      »Weißt du noch, wer du bist?« wollte Koumamá wissen, nachdem er eine Weile neben ihm gesessen und in die Dünen gestarrt hatte, eine Stunde lang, vielleicht auch zwei.

      »Nein«, sagte Franz. Seine Stimme klang eingerostet - ein Werkzeug, das lange nicht benutzt worden war.

      »Das musst du aber. Anders überlebt man in der Wüste nicht.«

      »Wenn das Kind groß genug ist, um die Reise zu überstehen, gehen wir zurück nach Deutschland.«

      »Sag nicht das Kind. Gib ihm endlich einen Namen.«

      »Das kann sein Großvater machen«, erwiderte Franz.

      »Dein Sohn kann nichts dafür«, sagte Koumamá. »Und er hat Anspruch darauf, von seinem Vater einen Namen zu bekommen. Reiß dich zusammen und gib ihm einen.«

      Franz schwieg. Viele Minuten lang. Dann sagte er: »Luise hat gespürt, wie er in ihrem Bauch um sich getreten hat. Sie mochte das. Stark wie ein Löwe, hat sie gesagt. Ich nenne ihn Leo

      Koumamá atmete auf. Na endlich. Franz hatte ein Lebenszeichen von sich gegeben.

      Er fing wieder an zu schreiben. Nicht an seiner Forschungsarbeit - er wollte der Verwandtschaft mitteilen, was geschehen war. Franz schrieb Briefe an seine Eltern und an Luises Vater, in denen er ankündigte, in ein paar Monaten zurück zu kehren.

      Fatou wusste, dass auch Koumamá sich Vorwürfe machte. Nicht nur, weil er Luise mit auf den Berg genommen hatte.

      »Deine Seele hat sich mit der Wüste vermählt, habe ich ihr gesagt. Hätte ich ihr nicht so süßliches Zeug in die Ohren geblasen, hätte sie ihr Kind vielleicht doch lieber in Deutschland bekommen und würde jetzt noch leben!«

      »Selbstmitleid ist etwas für ein mehari, das in der ténéré liegt und von den Schakalen zerfetzt wird«, sagte Fatou. »Natürlich trägst du Verantwortung. Aber nicht für die Toten - für die Lebenden. Franz ist ohne dich verloren. Und Leo? Wir sind seine Paten. Er ist auf uns angewiesen - solange sein Vater gefangen ist in seinem inneren Irrgarten.«

      4

      Die Briefe traten eine lange Reise an. Ein targi brachte sie nach Agadez, und es dauerte ein Vierteljahr, bis sie den Weg nach Tripolis gefunden hatten. Drei weitere Wochen später wurden sie in München zugestellt, zwei dicke Umschläge aus feinem, hellgrauem Papier, abgestoßen und schmutzig.

      Hermann von Kramm verließen beim Lesen der Zeilen alle Kräfte. Er sank tief in den weißen Fauteuil in seinem Büro und las den Brief wieder und wieder, als bestünde die Möglichkeit, sich verlesen zu haben. Luise konnte nicht tot sein. Nicht seine unerschrockene Tochter, die vor nichts und niemandem Angst hatte. Sicher, sie war verrückt genug, ein Kind in der Wüste bekommen zu wollen, das schon. Wenn jemand fähig war, etwas so Hirnrissiges zu versuchen, dann war sie das. Luises Vater weinte nicht. Er durfte jetzt nicht anfangen, Tränen zu vergießen, sonst würde er die Kontrolle verlieren. Und was würde er dann tun? Sich nach Afrika einschiffen und seinen Schwiegersohn mit den eigenen Händen erwürgen, das würde er tun! Der Schwachkopf hatte ihm das einzige genommen, das Hermann wirklich etwas bedeutete! Er ging auf und ab und dachte nach. Seine größte Stärke war, selbst in den schwärzesten Momenten die Übersicht zu behalten. Er hatte einen Enkelsohn? Wenn seine Tochter tot war, dann ging es jetzt um das Baby! Das würde bei ihm aufwachsen, so viel stand fest. Nicht bei Franz! Es gab zwei Möglichkeiten: Er wartete die Rückkehr der beiden ab, um dann in einem Rechtsstreit die besten Anwälte auf Franz zu hetzen. Oder er sorgte dafür, dass Leo ohne seinen Vater nach Deutschland kam!

      Gerhard, Hermanns Neffe, zeigte sich betroffen über den Tod seiner Cousine. Aber in Wirklichkeit ärgerte er sich nur über die Nachricht, dass es auf einmal einen Enkel gab. Nun war ihm schon wieder jemand in der Erbfolge voraus! Damit gab es keine realistischen