Manuela Tietsch

Im Bann des Bernsteins


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Gesicht. „Das wäre toll, dann könntest du uns immer Geschichten erzählen!“

      Amber lachte. Kinderfolgerung. Sie blickte erneut durch das Fenster des Wohnzimmers nach draußen, wo sich noch immer das Gewitter austobte.

      Ein dicker, gezackter Blitz durchzuckte die Nacht, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Sie würde die Kinder bei diesem Wetter nicht ins Bett bekommen, sie brauchte es gar nicht erst versuchen. Also blieben sie sitzen.

      Als Leon und Ellen etwa eine halbe Stunde später zur Tür hereinkamen, schliefen die Kinder bereits alle auf dem Sofa, und auf Amber. Leon lachte gutmütig und Gemeinsam brachten sie die Kinder in ihre Betten. Amber ging in den Flur, sie war irgendwie müde, wollte nach Hause. Das Gewitter war weitergezogen, es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Sie nahm ihre Tasche von der Kommode. Ihr Bruder tauchte in der Wohnzimmertür auf, während sie sich die Jacke anzog. Er sah abgespannt aus.

      Amber lächelte ihn an. „Ich will los, Leon. Bin ziemlich müde.“

      Er nickte. „Bist du sicher, dass ich dich nicht bringen soll?“

      „Ja, ich gehe gern ein Stück zu Fuß.“

      Leon gab sich noch nicht geschlagen. „Danke fürs Aufpassen! Hast du dein Handy dabei?“

      „Ach Leon! Es sind noch nicht einmal fünf Minuten bis zu mir.“ Sie gab ihm einen schwesterlichen, wohlmeinenden Kuss auf die Wange.

      Ellen erschien hinter Leon.

      Amber winkte ab, als sie sah, dass ihre Schwägerin sie dasselbe fragen wollte wie eben Leon. „Wirklich, ich bin doch kein Kleinkind mehr. Was soll denn passieren?“

      Leon lächelte entwaffnend. „Warte mal: Erstens der Himmel könnte dir auf den Kopf fallen, zweitens du könntest bis zum Mittelpunkt der Erde stürzen, drittens dir könnte wieder ein Geist begegnen.“

      Zack. Das saß. Aber sie machte gute Miene zum schlechten Gefühl. „Hör endlich auf!“ Ihr fröstelte ein wenig, als sie die Haustür öffnete.

      Leon versuchte sie noch einmal mit Blicken zu überzeugen.

      „Leon, wenn du sehen würdest, wie müde du aussiehst, dann würdest du mir nicht vorschlagen, mich nach Hause zu bringen. Grüßt die Kinder morgen von mir.“

      „Du könntest doch zum Essen kommen!“ sagte Ellen.

      Amber schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, bin ich auch mal froh, wenn ich keine Kinder sehe.“

      Leon wirkte ungläubig. Er wusste, wie sehr sie Kinder und ihre Arbeit im Kindergarten liebte und wie sehr sie darunter litt, durch ihren Unfall nicht mehr fähig zu sein, eigene Kinder zu bekommen. Trotzdem nickte er.

      Amber trat einen Schritt hinaus. Sie atmete die Nachgewitterluft tief ein. Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Bruder und Ellen um. Sie umarmten sich herzlich, ehe sie weiterging. Sie hob noch einmal den Arm zum Gruß, ehe sie noch einen tiefen Zug der würzigen Luft einsog.

      Leon blickte ihr einen Augenblick nachdenklich nach, derweil sie die Stufen der Treppe hinunterging, um fast wie eine Elfe vom dichten Nebel verschluckt zu werden. Er schloss die Tür.

      Im Nebel

      Amber genoß den feuchten Sommerabend. Die Luft war lau. Der Nebel zum Schneiden dick. Das Gewitter hatte die Natur schon vergessen, den Regen dankbar aufgenommen. Sie schlenderte nachdenklich weiter. Die Geschichte des Rattenfängers ging ihr nicht aus dem Sinn. Wie konnten die Leute das einfach so hinnehmen? Was war wohl wirklich geschehen im Jahre 1284? Die Hacken ihrer Sandalen hinterließen eine leise, eintönige Weise auf dem Asphalt. Eine Weile ließ sie sich von dem Geräusch dahintreiben. Hätte der damalige Bürgermeister dem Rattenfänger seinen versprochenen Lohn nur gegeben, dann wäre das Unglück doch nie geschehen. Außerdem stand es ihm zu. Sie musste über ihre Gedanken lachen. Es hieß nicht umsonst Rattenfängerlegende.

      Wie schnell konnten Gerüchte in Umlauf sein, wie schnell bekam man einen guten oder auch einen schlechten Ruf! Wie auch immer, sie dankte Gott aus tiefstem Herzen, dass sie im Hier und Jetzt lebte und nicht im Mittelalter.

      Sie schob gedankenverloren ihre Hand in ihre Hosentasche. Plötzlich fühlte sie den Stein wieder. Sie hatte ihn dort total vergessen. Mit einem gemischten Gefühl holte sie ihn heraus, um ihn auf der ausgestreckten Hand liegend zu betrachten. Unerwartet leuchtete er wieder. So wie heute Nachmittag, als sie und die Kinder ihn gefunden hatten. Als würde im tiefsten Inneren eine Flamme lodern. Klopfend, wie ein Herz.

      Und wieder fühlte sie sich ganz eigenartig, traurig, glücklich, verloren und doch wiederum behütet. Das war zu sonderbar mit diesem Ding. Nachdem sie ihn in der Gosse hatte leuchten sehen, hatte sie alles dafür getan, um an ihn heranzukommen. Mit Mühe und Not war es Oli gelungen, ihn aus dem Schacht zu ziehen. Doch in dem Augenblick, da sie ihn in die Hand nahm, hörte das Leuchten augenblicklich auf. Sie hatte sich gefragt, was sie veranlaßte, solch einen häßlichen Klumpen aufzuheben. Sie war sicher, sich getäuscht zu haben, etwas anderes hatte geleuchtet. Eine Sonnenspiegelung vielleicht. Die Kinder waren jedoch fest überzeugt, einen magischen Schatz entdeckt zu haben, der auf jeden Fall zu Amber wollte, so dass sie sich gezwungen sah, ihn in ihre Hosentasche zu schieben, obwohl sie ihn eigentlich wegschmeißen wollte.

      Nun lag er in ihrer Hand und leuchtete, hätte sie geschienen, mit der Sonne um die Wette. Das Licht wurde immer stärker, flackerte auf wie ein Feuer, welches neue Nahrung bekam.

      Eigenartigerweise bemerkte sie jetzt erst, hatte sich auch die Oberflächenstruktur des Steines verändert. Er fühlte sich glatt wie Seide an. Sachte strich sie mit dem Daumen darüber. Nur an einer Seite war er uneben, als wäre er an dieser Stelle zerbrochen. Ja, als gäbe es irgendwo noch eine zweite Hälfte. Sie sollte das nächste Mal mit den Kindern nachschauen, ob sie nicht noch dort lag. Mit einem Mal hatte sie das starke Bedürfnis, den Stein wie schützend in ihrer Hand zu verbergen und ihn dicht an ihr Herz zu drücken.

      Die Faust mit dem gelben Stein fest an ihre Brust gedrückt, richtete sie das erstemal wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung. Der Nebel hatte sich inzwischen gehoben; es lag nur noch ein feiner Dunstschleier in der Luft. Schließlich musste sie hier irgendwo abbiegen. Ihr Blick suchte die dunkle Straße nach der richtigen Abzweigung ab.

      Irgendetwas beunruhigte sie, wenn sie auch nicht hätte sagen können was. Sie fühlte sich seltsamerweise fremd, wie jemand, der ein ihm unbekanntes Land besucht. Auf ein Aha-Erlebnis wartend, blickte sie an den Häusern hoch. Es war jedoch alles wie immer.

      Dort stand Oma Lieses kleines Fachwerkhaus, dort die Villa von...Wo in Gottes Namen war die Villa? Sie verfluchte lautstark die Laternen, die schon wieder einmal kaputt waren. Wie sollte sie bei diesem Licht erkennen, wo sie sich befand. Vielleicht hatte sie sich ja völlig im Nebel verlaufen. Mit einem mürrischen Blick versicherte sie sich erneut des Standortes von Oma Lieses Haus. Dennoch verunsicherte sie irgend etwas. Sie trat einen Schritt auf die Häuserwand zu, begutachtete diese genauer. Das wars! Die Fenster, Türen, ja sogar das Mauerwerk schienen gerade erst wieder bewohnbar gemacht worden zu sein. Wann war denn das geschehen? Sie hatte weder Gerüste noch Arbeiter bemerkt. Das Haus war doch ihres Wissens mindestens siebenhundert Jahre alt, jetzt sah es aus wie frisch erbaut. Unmöglich, sie musste sich täuschen.

      Dies konnte nicht das geheimnisvolle, gefährliche Haus sein, indem sie mit ihrem Bruder und ihren Freunden Verstecken spielte. Gerade als sie ungläubig die feuchten Steine berühren wollte, hörte sie das leise Stöhnen.

      Ängstlich blickte sie die Straße entlang. Eine große, gekrümmte Gestalt lehnte an der Wand des Nachbarhauses. Sehr vorsichtig, sich hilfesuchend nach allen Seiten umblickend, ging sie ein paar Schritte auf die Gestalt zu. In ihrem Magen tobten indes irgendwelche Wesen, von deren Vorhandensein sie bisher noch gar nichts wusste, oder doch; schon einmal in ihrem Leben hatte sie diese eigenartigen Schmetterlinge in sich gefühlt. Ebenso wie die feuchten Hände und das empfindliche Schlucken und Räuspern.

      Sie schloss die Augen, um die Gedanken an dieses Erlebnis zu verscheuchen, erreichte damit jedoch genau das Gegenteil. Wieder