Manuela Tietsch

Im Bann des Bernsteins


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während mehrere Autos durch seinen Körper fuhren, als stünde dort niemand.

      Unerwartet zuckte sie zusammen, wie damals, als sie verstört durch den Geistermann, ohne aufzupassen, über die Kreuzung gelaufen war und die folgenschwerste Bekanntschaft mit einem Lastwagen machte, die sie je hatte. Wieder spürte sie den heftigen Stoß und Schmerz in ihrem Unterleib. Wieder hörte sie die Leute aufschreien, ehe ihr schwarz vor Augen geworden war.

      Sie merkte, wie ihr der kalte Schweiß die Wirbelsäule hinunterlief. Konnte sie nicht endlich vergessen! Wütend öffnete sie die Lider und blickte unvermittelt in zwei bernsteinfarbene Augen!

      Ihre Knie wurden butterweich. Eben noch war der Himmel wolkenverhangen, hatte keinen Strahl durchgelassen, doch jetzt riss die Wolkendecke auf, ließ den Mond sein fahles, dennoch starkes Licht hinunterstrahlen.

      Sie konnte den Blick nicht abwenden von diesem auffallenden, von herbstblattbunten Haaren umrahmten Gesicht. Von diesen magisch wirkenden, seltenen Augen, mit dieser außergewöhnlichen Farbe. Ihr stockte der Atem, indes ihr ein Stöhnen des Unfassbaren über die Lippen entfloh. Ein Alptraum!

      Sie wollte sich abwenden, den Blick lösen, doch sie konnte sich nicht entziehen, obwohl ihre Haut kribbelte, als säßen tausend Ameisen auf ihr. Ihre Körperhaare stellten sich auf.

      Dieser Mann, Geist, wer auch immer, übte eine ungeheure Anziehungskraft auf sie aus, gleichzeitig war er der unheimlichste Mensch, dem ihr je begegnet war. Schweigend blickten sie sich an. Die Zeit flog dahin, doch sie hätte nicht sagen können, ob sie dort schon seit Stunden standen oder erst seit wenigen Minuten. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, trotz des lauen, warmen Wetters draußen.

      Der Mann schien ebenso beunruhigt wie sie. Ja, sie glaubte auf seinen Zügen sogar dasselbe Erstaunen über ihr Zusammentreffen zu erkennen, wie sie es in sich spürte. Unerwartet wanderte sein Blick zur Seite, als befürchtete er einen Feind.

      Damit gab er ihnen endlich die Gelegenheit ihre Blicke zu befreien.

      Aus rauher Kehle rief er aus. „Ihr?!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie seyd ihr hier her gelanget?“

      Amber lachte trocken auf. Das war ja wohl die Höhe. Wieso stellte er ihr solch eine Frage, noch dazu in dieser seltsamen Mundart. Der Bann war für einen Augenblick gebrochen.

      Sie schob den Stein unbewusst wieder in ihre Hosentasche, während sie ihm patzig antwortete. „Und du! Zufällig wohne ich hier, in dieser Stadt!“

      Er zauberte, trotz seiner offensichtlichen Schmerzen, ein wissendes, fast überhebliches Lächeln auf seine Lippen. „Ich weyß,“ sagte er,“ aber nicht in dieser, meyner Zeyt!“

      Wenn sie nicht sowieso schon völlig verstört gewesen wäre, dann wäre sie jetzt aus allen Wolken gefallen. Der Kerl hatte einfach nicht alle Tassen im Schrank. Sie sollte schnellstens ein Telefon suchen und die Polizei einschalten. Gut möglich, dass er sie plötzlich angriff. Sicherheitshalber trat sie möglichst unauffällig einige Schritte zurück.

      Wieder lächelt er wissend; das ärgerte sie.

      „Ihr tätet mir nicht glauben wollen, Fräuleyn, aber ich sprech wohl die Wahrheyt!“

      Sie schüttelte wütend den Kopf. Obwohl ihr die wüstesten Beschimpfungen einfielen, die sie ihm wirklich liebend gerne an den Kopf geschmissen hätte, sagte sie nichts. Sie hatte zuviel Angst, ihn zu reizen und wütend zu machen, und wer konnte dann noch für ihre Sicherheit bürgen? Hilfesuchend schaute sie sich nach allen Seiten um.

      Wo waren denn all die Menschen? Es war doch noch gar nicht so spät in der Nacht, dass sie und dieser merkwürdige Kerl die einzigen wachen Leute sein konnten.

      Seine Augen folgten ihrem Blick, doch müde und geschwächt durch die Verletzung, schloss er einen Augenblick die Lider. Seine Hand nestelte an seinem Hemdausschnitt herum. Was hatte er denn jetzt vor; sie fühlte wie ihr die Angst den Rücken hochkroch.

      Nach kurzer Zeit zog er eine Schnur mit einem Bernsteinanhänger hervor, welcher wie ihrer aussah. Wie konnte das sein? Auch dieser Stein flackerte, wie ihrer, in seiner hohlen Hand. Sie schluckte unruhig, wollte nur noch fort von hier. Weg von diesem Mann, den sie trotz ihrer Angst so seltsam anziehend fand. Weg von diesem dunklen Ort, den sie nicht recht erkannte. Sie wusste genau, es war dumm von ihr, trotzdem sagte sie herausfordernd.

      „Mein Vater ist der Bürgermeister von Hameln! Wenn du mir etwas zu leide tust, dann, dann,“ ja was dann? Sie wusste nicht weiter.

      Er öffnete seine Augen wieder. Dieses Mal ein eindeutig spöttisches Lächeln um die Mundwinkel. Er verneigte sich leicht, unter Schmerzen, machte eine weitläufige Geste mit dem Arm, die Straße entlang zeigend.

      „Bitte verehrtes Fräuleyn, tuhet euch keynerley Zwang an. Ihr seyd frey zu gehen, wohin euch eure zarten Füße auch tragen mögen.“ Sein Lächeln wich einem verbitterten Zug. „Vielleycht führet euch der Weg wiederum zurück, in euer eygenes Quernhamelen!“

      Wenn sie schlau war, dann nahm sie diese großzügige Geste umgehend an. Mutig ging sie, einige Schritte Abstand haltend, an ihm vorbei, die Straße hinunter. Aber wohin sollte sie eigentlich gehen, sie wusste es nicht. Sie drehte sich nach einigen Metern noch einmal um, teils um zu überprüfen, ob er ihr auch nicht folgte, zum andern, um ihm entgegenkommend zuzurufen:

      „Du solltest dringend zu einem Arzt mit deiner Verletzung.“

      Noch während sie sprach, merkte sie, wie ihr Schritt schneller wurde. Sie bog die nächste Straße zur Linken ab. Nach einem letzten Blick auf den seltsamen Mann achtete sie wieder auf den Weg. Völlig verunsichert, durch die Tatsache, dass sie nichts als solches wiedererkannte, wie sie es gewohnt war, überfiel sie eine lähmende Angst.

      Hatte er womöglich doch Recht? War es erdenklich, dass sie in einer anderen Zeit gelandet war? Sie versuchte sich an seine Kleidung zu erinnern, um sie zeitlich einordnen zu können. Das lange, rostbraune Gewand, die Schnabelschuhe, seine schulterlangen Haare? Sie blickte an den Häusern hoch, die so alt, und doch so frisch wirkten. Mittelalter! Die einzige Zeit, die ihr dazu einfiel. Genauso hat es angeblich im Mittelalter ausgesehen. So ein Quatsch! Und sie glaubte auch noch daran.

      Müde und verzweifelt, da sie ihre eigene Wohnung nicht finden konnte, setzte sie sich auf einen eckigen, etwa hockerhohen Stein, der an der Gasse vor einem der Häuser stand. Da kam ihr der rettende Einfall. Sie brauchte doch nur bei einem der Anwohner klingeln, um zu telefonieren. Warum war sie denn darauf nicht schon zuvor gekommen.

      Gedacht, getan. Sie stand auf, um sich geradewegs der Tür hinter ihr zu widmen und die Klingel zu drücken. Aber eine solche gab es nicht! Na gut, dann klopfte sie eben. Mutig setzte sie den gekrümmten Finger an, um erst einmal zaghaft zu klopfen. Drinnen rührte sich keiner. Sie klopfte erneut, dieses Mal jedoch lautstark und fordernd. Endlich hörte sie schlurfende Schritte. Sie atmete erleichtert aus; nun konnte sie sicher sein, dass sie und dieser Kerl nicht die einzigen Menschen in dieser verwandelten Stadt waren, denn dieser Gedanke nagte schon die ganze Zeit an ihr.

      Ein schwaches Licht drang durch die kleine Scheibe neben der Tür. Eine männliche Stimme rief erbost. „Wer tät zu so später Stund an meyner Türe pochen? Verschwindet!“

      Amber schluckte nervös ihre unbestimmte Angst herunter. „Ich wollte sie nur fragen, ob ich einmal telefonieren könnte! Ich bezahle auch dafür!“

      Gleich würde sich die Tür öffnen.

      „Verschwind, hätt ich gesaget! Lumpenweyb! Sie sollt sich Packen, sonst ruf ich nach den Bütteln!“

      Sie zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen. Lumpenweib! Büttel! Hatten hier alle eine Macke bekommen? Sie lief wie gehetzt los. Egal wohin, nur fort. Nur nach Hause. Hätte sie doch Leons Angebot angenommen, dann läge sie jetzt bereits in ihrer Wohnung, in ihrem Bett und irrte nicht wie eine Geisteskranke in der Stadt umher. Geisteskrank? Das musste die Kernfrage sein. Sie hatte sie nicht mehr alle. Spätfolgen ihres Unfalls! Deswegen hatte sie auch den selben Mann wieder gesehen. Sie lief weiter. Nur nicht stehen bleiben. Egal wohin sie jedoch lief, wohin sie kam, überall das gleiche Bild.

      Nach