Manuela Tietsch

Im Bann des Bernsteins


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dass nur noch ein etwa ein Meter großer Gang die Wände trennte. Sie überwand ihre schlappen Beine, die am liebsten hier sitzen geblieben wären, stand auf und ging in den Spalt. Hier überkam sie ein aberwitziges Gefühl von Sicherheit. Keiner konnte sie auf den ersten Blick erkennen und sie hätte ihre Ruhe, bis Morgen. Morgen! Da sah die Welt bestimmt anders aus. Sie freute sich schon auf ein Frühstück bei Leon! Egal das sie gesagt hatte, sie käme nicht, nach dieser Nacht würde sie hingehen! Der Gedanke daran tröstete sie. Zwar unbequem, aber unter den gegeben Umständen zufrieden, um des sicheren Platzes, schlief sie ein.

      Die Ratten sind weg

      Laute Rufe, vermischt mit fröhlichem Gesang, weckten Amber aus ihrem unbequemen Schlaf. Zögernd ging sie ein paar Schritte bis zur Straße, um sich umzusehen.

      Ein Zug von etwa fünfzehn Menschen tanzte ausgelassen an ihr vorbei. Sie benahmen sich wie toll. Und alle, wie sie mit Erschrecken feststellte, trugen mittelalterliche Kleidung. Als sie vorbei waren, wagte sie sich hinaus. Das musste es sein! Sie hatte lediglich nicht mitbekommen, dass dieses Jahr bei den Spielen die ganze Stadt beteiligt war. Was für ein Aufwand, wenn sich sogar die normalen Bürger verkleideten.

      Wohl fühlte sie sich jedoch überhaupt nicht. Sie fand sich noch immer nicht zurecht, erkannte die Gegend nicht wieder. Verstört lief sie den Leuten hinterher; das schien ihr die sicherste Vorgehensweise, um wieder an übliche Menschen zu gelangen.

      Immer mehr Leute sammelten sich auf den Straßen, tobten ausgelassen und fröhlich, als hätten sie wirklich etwas zu feiern. Und alle, ohne Ausnahme, bemerkte sie, waren verkleidet. Wieso hatte ihr Vater ihr denn nicht davon erzählt. Sie kam sich reichlich albern vor, so ohne Verkleidung, zwischen all den anderen. Nun ja, blieb ihr nichts übrig, als sich so unter die Touristen zu mischen, die sich die Festlichkeiten ansahen. Mißmutig folgte sie der Gruppe. Nach kurzer Zeit hielten sie vor einer Bäckerei. Sie sah, dass die Bäckersfrau Brötchen verteilte. Ein Brötchen zum Frühstück kam ihr ganz gelegen, denn ihr Magen meldete sich bereits. Sie drängte sich zwischen die Menschen.

      Ihre Laune hob sich etwas, sie konnte sogar wieder lächeln; schnell erstarb ihre gute Laune jedoch wieder, als sie begriff, dass die Leute ihr bei weitem nicht so freundlich entgegentraten, wie sie ihnen. Im Gegenteil! Sie bemerkte argwöhnische Blicke, die ihr mehr als unangenehm waren. Irgendwie fühlte sie sich genötigt, etwas zu sagen.

      „Ich hatte heute noch keine Gelegenheit mich zu verkleiden. Schade eigentlich, sieht ja ganz toll aus. Wie echt.“ Sie lachte erzwungen. „Man könnte wirklich meinen im Mittelalter zu sein!“

      Eine junge Frau schaute beschämt zur Seite. Mein Gott, die übertrieb das Spiel aber gewaltig. Amber ärgerte sich über diese Leute. Nur weil sie heute mal alle verkleidet ausgingen, hatten sie noch lange kein Recht, sich über sie lustig zu machen, oder sich besser zu fühlen. Sie war doch nicht vom Mars! Trotz ihrer Versuche, sich selber zu bestärken, fühlte sie sich noch unwohler in ihrer Haut, als zuvor. Sie versuchte die Leute nicht zu beachten, während sie darauf wartete an der Reihe zu sein.

      Die Gruppe zog endlich weiter, sie war dran. Mutig lächelte sie die wohlbeleibte Bäckersfrau an. Ihr langes Gewand schien schon seit langem nicht mehr zu passen und die ehemals weiße Schürze hatte sicher auch schon bessere Tage erlebt. Sehr einladend war ihr das ganze nicht. Aber sie hatte Hunger. Ein unangenehmes Kribbeln kroch ihren Arm hinauf.

      Was, wenn die Frau ihr kein Brötchen gab? Unsicher streckte sie die Hand aus, damit die Frau sie nicht übersah. Sie versuchte den misstrauischen Blick der Bäckerin zu übersehen.

      „Ich wusste gar nicht, dass dieses Jahr die ganze Stadt mitspielt!“

      Die Bäckerin öffnete die Lippen, um Luft abzulassen, wobei ihr das Doppelkinn wabernd auf den Ausschnitt ihres Kleides fiel. „Sie wär wohl gar nicht von Quernhamelen?“

      „Doch natürlich, deswegen wundere ich mich ja so.“

      Die Frau blickte sie argwöhnisch an. „Ach Fräuleyn, s‘ ist doch wegen des Rattenpackes!“

      Amber lachte angespannt, doch sie wollte das gerade in Gang kommende Gespräch nicht gefährden. „Natürlich, wie jedes Jahr.“

      Die Bäckerin bediente zwischendurch drei junge Männer, die Amber höchst anzügliche Blicke zuwarfen. Sie schaute errötend zur Seite. Was zuviel war, war zuviel.

      Als die Bäckersfrau sich ihr wieder widmete, wirkte sie durcheinander. „Das sey eyn guter Scherz, Fräuleyn. Wie jedes der Jahre!“ Sie lachte lauthals los. Dann unterbrach sie sich selber unvermutet. „Dem Herren sey gedanket, deret halben wir solch eyn Unglück nicht jedes der Jahre hätten.“ Ihr Blick wurde verschwörerisch.„Wenn sie mich fraget, Fräuleyn, ich wollt ihr sagen, der Mann wär eyn verfluchter Zauberer!“ Sie beugte sich weiter zu Amber hin, die Miene noch geheimnisumwitterter als zu vor. Wispernd fuhr sie fort. „Die guten Herren des Rates und unser allerbester Herr Bürgermeyster, Gott sey mit ihm, hätten ihm seynen Lohn wohl geben sollen! Denket an meyne Worte. Ihn unter Schmach und Schand aus unserer schönen Stadt zu vertreyben, das bringet nur Unglück über uns. Wo er uns doch von dem Rattenpack befreyte. Hauptsache die gefräßigen Viecher seyn fort. Ich sag ihr, dass könnt noch bös enden.“

      Amber verstand die Welt nicht mehr. Unsicher beobachtete sie die Menschen, während sie sich schützend die Arme um den Oberkörper legte. Was war denn bloß geschehen? Der Mann mit den goldenen Augen konnte doch unmöglich Recht haben. Ihre Oberarme streichelnd versuchte sie ihrer Gänsehaut Herr zu werden.

      Ein paar Kinder kamen auf die Bäckerei zugelaufen. Die Bäckerin gab Amber ihr Brötchen, aus grob gemahlenem Vollkornmehl, sie nickte ihr dankend zu, während sie die heranstürmenden Kinder begutachtete.

      Das Schlußlicht bildete ein kleiner, lahmer Junge von etwa sechs Jahren. Seine schulterlangen, braunen Locken hingen struppig und ungepflegt um seinen Kopf. Er trug viel zu kleine, schmutzige Lumpen am Körper.

      Die Bäckerin gab jedem der Kinder ein Brötchen. Sogleich stürmten sie weiter, nur der kleine lahme Junge blieb zurück. Die Bäckerin guckte ihn böse an.

      „Lovis, Taugenichts! Verschwind er! Er hätt am heutigen Tage schon eynmal eyn Brötchen erhalten!“

      Der Junge duckte sich unter ihren Worten, wie unter einem tanzenden Knüppel. Wie konnte die Frau nur so herzlos sein. Mit hungrigen Blicken auf die Backwaren und Auslagen wandte er sich ab, um wieder zu gehen. Amber warf der Frau einen bösen Blick zu, ehe sie den Jungen am Arm zurückhielt. Wortlos reichte sie ihm ihr Brötchen.

      Lovis strahlte sie an. In seinen Augen lag Bewunderung.

      Amber lächelte aufmunternd. Er trollte sich eilig, ehe sie sich anders besann.

      Amber wollte ebenfalls gehen, sie hatte genug von dem Geschwätz der Frau. Genug von dem ganzen Mittelaltergetue.

      Doch die Bäckerin hielt sie am Arm zurück. Sie war wirklich anmaßend. Dicht an ihr Ohr gedrängt wisperte sie. „Ich habs mit denen, meynen eygenen Augen gesehen...Wie sie ihn mit Knüppeln durch die Stadt trieben...Und ob sie‘s wollet glauben oder auch nicht, er hat den Teufel im Leybe! Keynen Laut gab er von sich. Aber dieser Blick! Der Blick, sag ich ihr, der ginget mir durch Mark und Beyn! Diese schrecklichen gelben Augen. Wolfsaugen, sag ich ihr, Fräuleyn.“

      Gelbe Augen! Unwillkürlich durchlief sie ein Schauer. Sie konnte das Gerede nicht mehr ertragen. Mit sanfter Gewalt befreite sie sich aus der Umklammerung.

      „Danke für das Brötchen, aber ich muß jetzt wirklich gehen.“ Ohne die Frau weiter zu beachten, entfernte sie sich schnell von diesem Ort. Hatte sie wirklich gelbe Augen gesagt? Was ging hier vor sich?

      Wäre nicht alles so beängstigend, sie würde nur staunend durch die Gassen laufen. Ihr schien unmöglich, dass jemand die Stadt in einer Nacht hatte dermaßen verändern können. Selbst der größte Künstler, oder reichste Mensch der Welt konnte so etwas nicht vollbringen.

      Das Pflaster, sofern es welches gab, bestand aus kleinen, wohl gesetzten Steinen. An den unbepflasterten Stellen lag Sand oder