Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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      Kapitel 2

      Ramona und ich stiegen ins Auto, kurbelten die Fenster nach unten, um die Wärme entweichen zu lassen. Die Jungs waren noch mit Anziehen beschäftigt. Micha schloss den Kinngurt seines Helms und setzte sich auf sein Motorrad, startete die Maschine und wendete.

      Tom zog den Reisverschluss seiner dünnen Jacke über der Arbeitsuniform zu. Ein Handschuh war herunter gefallen, er ging um sein Motorrad herum und hob ihn auf.

      Die vertraute Ruhe in der kleinen Straße wurde durch das kernige Röhren der Motoren unterbrochen. Für uns klang es wie Musik. Ich drehte am Ende der Sackstraße um. Wir winkten noch mal zum Abschied und bogen in Richtung Hauptstraße ab. Am Marktplatz mit der Kirche und dem Wirtshaus vorbei, bogen wir auf die B17 Richtung Süden. In der Gegenrichtung war viel Verkehr. Typisch Freitagnachmittag und Berufsverkehrszeit.

      In unsere Richtung war es ruhiger, es waren immer wieder größere Lücken im Verkehr. Mit Tempo 90 schwammen wir im Verkehr mit. Ramona und ich fuhren mit meinem Golf ein Stück hinter den Motorrädern. Nebenbei liefen im Radio die Nachrichten, es wurde wieder über Reagans Besuch in Berlin und die daran geknüpften Erwartungen gesprochen, aber auch über die Ausschreitungen. „…Es war ein Tag, den viele Berliner im Gedächtnis behalten haben: West-Berlin stand gleichsam vor dem Bürgerkrieg. Es war der Höhepunkt schwerer Auseinandersetzungen mit der Hausbesetzer-Szene, die beim Reagan-Besuch ihren Antiamerikanismus brutal austobte….“ Das Ganze sollte als die "Schlacht am Nollendorfplatz" in die linke Geschichtsschreibung eingehen. Dann kam die Meldung, dass Curd Jürgens gestorben sei. Schade ich mochte ihn als Schauspieler. Der Wetterbericht versprach, dass das Hochdruckwetter anhalten sollte. Hoffentlich!

      Bei den ersten Klängen von „Bohemien Rhapsodie“ dachte ich, „Endlich mal etwas Vernünftiges und nicht nur dieses Neue Deutsche Welle Gedudel!“ Oder noch schlimmer Nicole, sie hatte vor kurzem mit „Ein bisschen Frieden“ den Grand Prix de Eurovision gewonnen, und der Song wurde im Radio rauf und runter gespielt. Ich dachte an das Mädchen mit den langen, blonden Haaren, dem altmodischen schwarzen Kleid mit weißen Tupfen und dem großem Kragen und der weißen Gitarre - ich konnte den Song nicht mehr hören.

      „Ich hätte nie gedacht, dass wir alle zusammen feiern würden. Ich freue mich, dass wir als eine große Familie wieder zusammen sein können“, sagte Ramona mehr zu sich selbst, aus dem Fenster blickend. Die Landschaft zog an ihr vorbei. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach. Nach einiger Zeit sprach sie weiter, „Mama probiert immer wieder neue Menüs aus, sie will, dass an diesem Tag alles perfekt ist. Hättest du mich vor zwei Jahren gefragt, ob das so sein würde, hätte ich gesagt du spinnst.“

      „Es hat sich viel getan“, antwortete ich nachdenklich, „jetzt haben wir ein Happy End, wie in einem billigen Groschenroman.“

      Es entstand eine neuerliche Pause. Bei dem Gedanken, was sich die letzten zwei Jahre abgespielt hatte, mussten wir beide lachen. Lachen war besser als weinen. Zeitweise hatte, das was sich zwischen uns und unseren Familien abspielt hatte, die Qualität eines billigen Groschenromans. Im Nachhinein mussten wir uns alle die Frage stellen, warum wir uns das nur gegenseitig angetan hatten.

      Wir kamen zügig voran, die halbe Strecke lag bereits hinter uns. Wir steuerten auf eine lang gezogene Rechtskurve zu. Harmlos könnte man denken, aber der Schein trügt. Sie will nicht enden und man wird viel weiter hinausgetragen, als man eigentlich geplant hatte.

      Woher ich das wusste? Wir waren sie jeder schon mal am Limit mit dem Motorrad gefahren. Ein ganzes Stück vor uns nahm ich im Gegenverkehr einen roten Kadett wahr, vor ihm hatte sich eine größere Lücke gebildet. Er fuhr langsamer, schnitt die Kurve. Er fuhr weit über der Mittellinie. Aus heiterem Himmel bekam ich Gänsehaut. Michael und Tom fuhren zügig und sicher, hatten einige Autos überholt, waren aber noch in Sichtweite. Kannten die Strecke. Genossen das Fahren bei dem schönen Wetter.

      Nachdem es ein eher nasses und kaltes Frühjahr war, freuten wir uns über jeden trockenen und sonnigen Tag, an dem wir Gelegenheit zum Motorradfahren hatten. Warum lenkte der Kadett nicht auf seine Spur zurück, er musste die Motorräder doch schon längst bemerkt haben?

      Micha fuhr ein Stück vor Tom. Die beiden hielten einen Abstand von ungefähr dreißig Metern zueinander, fuhren leicht versetzt. Sie waren schon bedrohlich nahe an dem Kadett. Sahen die beiden das Auto nicht?

      Wie in Zeitlupe ereignete sich die Katastrophe. Im Bruchteil von Sekunden, und doch kam es mir vor, als ob die Zeit stillstand, beziehungsweise sich wie in Superzeitlupe in unsäglicher Langsamkeit dehnte.

      Das rote Auto fuhr stur weiter auf der falschen Fahrbahnseite, erfasste die Bol d’Or frontal. Ein lauter Knall, metallische Geräusche. Das Quietschen von Reifen. Tom versuchte dem Hindernis auszuweichen. Sein Bremslicht leuchtete auf, erlosch. Er riss sein Moped herum. Kämpfte, versuchte, der über die Straße schlitternden Bol’Or auszuweichen.

      Michael wirkte wie eine Puppe, erst schlug er auf dem Auto auf, um dann hoch in die Luft gewirbelt zu werden. Wie eine Feder oder ein Blatt im Herbst. Ich war gefangen in der Regungslosigkeit des Entsetzens.

      Wie in Trance erlebte ich die Szene, die sich vor mir abspielte. Tief in meiner Erinnerung spüre ich den Rhythmus pulsierender Donnerschläge, mein Herz raste. Intuitiv wusste ich, es war etwas Schreckliches passiert.

      Mein Auto stand. Ich war wie gelähmt, mein Geist hatte sich von meinem Körper abgekoppelt. Mechanisch stieg ich aus dem Auto und rannte in die Richtung in die ich Michael fliegen gesehen hatte. Dort angekommen kehrte Stille um mich herum ein.

      Ich starrte auf seinen regungslosen Körper. Erstickendes, kaltes, unbeschreibliches Grauen umfing mich. Er lag da, als wenn er schlafen würde. Durch das Visier sah ich, dass die Augen fest geschlossen waren. Tom und Ramona waren neben mir.

      Bald standen viele Leute um uns herum. Stimmengewirr umgab uns, sie hörten sich wie ein byzanthistischer Chor an. Klangen schrill. Zu laut, zu verworren. Wo kamen all die Leute her?

      Das Unheil und die Dramatik des Geschehenen, lies uns vier wie in einem Bühnenbild erscheinen. Jegliches Zeitgefühl hatte mich verlassen. Um uns herum herrschte hektische Betriebsamkeit.

      Trotzdem wirkte das alles weit weg, wie durch eine Nebelwand. Tom, Ramona und ich waren ganz still, wie innerlich erstarrt. Tom nahm Micha den Helm ab, ich hielt seinen Nacken. Ramona war zurück zum Auto gelaufen und holte eine Decke. Wir funktionierten, kümmerten uns um ihn. Die Handgriffe geschahen mehr aus Instinkt als aus rationaler Handlung. Der Horror des Geschehenen hielt uns fest in seinem Bann. Wir hatten ihn auf die Seite gelegt und zugedeckt.

      Tom hielt mich an sich gepresst. Der Schmerz der Verzweiflung breitete sich aus. In meiner Erinnerung höre ich einen unwirklichen Schrei, der Gedanke daran lässt mich noch heute erschaudern. Ich hatte das Gefühl mittendrin und doch nicht wirklich dabei zu sein. Mein Herz raste, bebte, mit jedem Schlag zog es mich tiefer in die Gewissheit, dass ich ihn verlieren würde.

      Nach einiger Zeit war ein Martinshorn zu hören. Ob nur ein paar Minuten oder bereits Stunden vergangen waren bis der Notarzt eintraf, konnte ich nicht beurteilen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Jemand zog an mir.

      „Bitte lass ihn los“, befahl die Stimme. Sie wollte, dass ich ihn loslasse, ihn gehen lies.

      Nein, niemals! Ich fühlte, wie mich jemand festhielt, jemand auf mich einredete. Es klang weit weg. Es war als wenn die Erde stillstehen würde, grenzenlose Ohnmacht. Ich war zu keinem Wort, zu keiner Bewegung fähig, meine Knie waren weich. Wir lebten, aber der Tod war ganz nah.

      Jemand legte eine Decke um meine Schultern. Zog, trug mich von ihm weg. Völlig teilnahmslos saß ich einige Momente später, mit dem Rücken an ein Fahrzeug gelehnt, im Gras.

      Aus der Entfernung beobachtete ich wie das Notarztteam in seiner trainierten, professionellen Weise Micha versorgte. In den Gesichtern konnte man nicht lesen. Einer der Männer war zum Wagen zurückgelaufen, hantierte mit dem Funkgerät. Ein anderer Mann betrachtete den Helm eingehend, drehte, wendete und befühlte ihn. Seine Mine war ernst, er legte den Helm in den Krankenwagen.

      Wie aus dem nichts tauchte ein neues Geräusch auf,