Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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war unerträglich. Um nicht verrückt zu werden und meine Panik zu unterdrücken, zählte ich ein um das andere Mal die Platten der Deckenverkleidung im Wartebereich.

      Die Zeitspanne, die verging bis sie zurückkam erschien mir wiederum endlos. Wir sahen sie an. Tom war aufgestanden und stand jetzt neben ihr, er hatte den Arm schützend um sie gelegt. Vier Augenpaare starrten sie erwartungsvoll an.

      „Er lebt….noch…“ ihre Stimme war gebrochen, das Ende des Satzes hing in der Luft.

      Dann wiederholte sie mit einer fremdklingenden, monotonen Stimme den Bericht des Arztes. „Sein Zustand ist immer noch sehr instabil, bei den Verletzungen handelt es sich um ein so genanntes Polytrauma. Die OP ist den Umständen entsprechend gut verlaufen. Über die Auswirkungen des Schädel-Hirn-Traumas und der damit einhergehenden Blutung konnte der Arzt noch keine Prognose abgeben, man muss die nächsten Stunden und Tage abwarten.

      Er hat eine instabile Beckenfraktur, die dadurch verursachten Blutungen wurden gestoppt, er hat aber viel Blut verloren. Mehr können sie im Moment nicht tun.“

      Alle anderen Verletzungen könnten erst im zweiten Schritt behandelt werden, da von ihnen keine akute Lebensgefahr ausging. Mehr würde er jetzt nicht verkraften. Sorge bereitete den Ärzten ein Serienbruch der Rippen auf der rechten Seite, der die Atmung zusätzlich beeinträchtigte. Er hätte aber Glück, die Lunge sei nicht beschädigt. Er hatte noch mehrere kleinere Brüche, diese wären jedoch unkompliziert.

      Es hörte sich so sachlich an, unwirklich. Der Bericht erschlug uns, wir saßen stumm da. Gab es noch irgendeinen Teil seines Körpers der nicht in Mitleidenschaft gezogen war? Ich weinte still vor mich hin, Sabine kam auf mich zu, sie nahm mich in den Arm. Eine vorher nicht gekannte Nähe war plötzlich entstanden.

      „Wir können für einen Moment zu ihm“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. Sie nahm mich bei der Hand, die anderen blieben zurück. Wir mussten uns umziehen, Plastiküberzieher für die Schuhe, grüne Kittel. Eine Schwester begleitete uns. Sie hatte ein nettes, rundes Gesicht, versuchte uns zu beruhigen, uns Mut zuzusprechen. Sie öffnete eine Schiebetür. Der Raum war hell und hoch technisiert, er hatte etwas aus einem Science Fiction Film. Micha lag in einem Bett, das neben drei anderen aufgereiht war. Trotz seiner Größe sah er sehr zerbrechlich aus.

      Die Augen waren fest geschlossen, die blonden Haare unter dem Verband kaum zu sehen. Das Beatmungsgerät erzeugte ein gleichmäßiges zischendes Geräusch, der Schlauch, der in seinem Mund steckte, war mit einem transparenten Pflaster fixiert.

      Es war gespenstisch, viel Verband, viele Schläuche und das kontinuierliche Piepsen des Überwachungsmonitors. Er war nur mit einem dünnen Laken zugedeckt, ob er friert?

      Die ganze Zeit über hatte ich mir eingeredet, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Als ich neben ihm stand, wurde das Geschehene immer realer. Bis dahin war alles nicht ganz wahr gewesen, mein Herz hatte es nicht geglaubt. So standen Sabine und ich eine Weile an seinem Bett. Ich hatte seine Hand in meine gelegt und umschlossen, er lag neben mir und war doch unerreichbar.

      Wieder draußen auf dem Gang trafen wir nochmals den Arzt mit dem Sabine gesprochen hatte, er hatte sich umgezogen, trug jetzt einen frischen, weißen Mantel.

      Er sah uns an und sagte, „Man muss die Nacht und sie nächsten Tage abwarten, sehen in wieweit sich sein Zustand stabilisiert, mehr können wir im Moment nicht tun. Sie sollten sich auf das Schlimmste einstellen. Es ist besser, wenn sie nach Hause fahren und sich ausruhen, beten könnte vielleicht helfen.“

      Es klang so nüchtern. Wie oft hatte er Angehörigen schon Ähnliches mitteilen müssen. Sich auf das Schlimmste einstellen, es klingt so unpersönlich. Dabei ging es hier um den Menschen den ich mehr alles andere liebte.

      Er kann doch nicht so einfach aus unserem Leben verschwinden. Nur weil ein Autofahrer nach einem Päckchen Zigaretten im Handschuhfach gekramt hat. Und kurz unaufmerksam war.

      Tom hatte es uns während des Wartens erzählt. Der Mann in dem roten Kadett hatte das gegenüber der Polizei an der Unfallstelle ausgesagt. Warum? Es war so sinnlos. Ich wollte lieber mit ihm sterben als ihn verlieren.

      Kapitel 3

      Tom fuhr mit mir nach Hause. Keiner konnte etwas sagen. Tief in meinem Herzen spürte ich die grausame Wahrheit, sie brachte mich fast um. Ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Alles hatte sich in einer Sekunde verändert. Zu Hause angekommen verkroch ich mich an Michaels und meinem Lieblingsplatz, auf unsere Dachterrasse. Mit dem T-Shirt, das Michael zuletzt an hatte und einer Decke. Ich starrte in die Dunkelheit der Nacht. Alles, was stark in mir war, sehnte sich danach, ihn in den Arm zunehmen, ihn zu beschützen. Doch ich konnte nichts tun.

      In der Stadt brannten um diese Zeit nur wenige Lichter. Das Geschehene war so unglaublich. Wieso? Nur wenige Geräusche drangen wie aus weiter Ferne gedämpft durch den Nebel. Stille umgab mich. Es war kalt, die Feuchte legte sich über alles wie ein Schleier.

      Es waren keine Sterne zu sehen, ich fragte mich ob es einen Gott gibt. Wenn ja warum tut er so etwas, wie kann er so etwas zulassen. Gibt es Schutzengel, wenn ja, hatte der gerade Pause. Wut und Verzweiflung mischten sich. Warum bin ich nicht im Krankenhaus geblieben? Was wenn er ganz allein stirbt?

      Nein er darf nicht sterben, wenn es einen Gott gibt, dann lässt er es nicht zu. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Als ich aufwachte, war es kalt und der Morgen graute bereits. Vielleicht war alles nur ein böser Traum.

      Die Stadt sah aus wie immer, das gleiche Bild, die gleichen Häuser. Die gleichen Gerüche und Geräusche. Als wenn nichts gewesen wäre. Es war Samstag. Die Decke in die ich mich gewickelt hatte, war ganz durchfeuchtet vom Nebel. Unangenehme Kälte hatte von meinem Körper Besitz ergriffen.

      Ich streckte meine steifen Glieder, massierte meine Hände und Füße, sie waren wie Eisklumpen. Mein Körper fühlte sich seltsam tot an, es störte mich nicht. Es fühlte sich an als wäre eine Dampfwalze darüber gerollt. In meinem Kopf pochte ein gemeiner Schmerz, mein Nacken war so steif, dass ich Schwierigkeiten hatte den Kopf zu drehen. Langsam stand ich auf, blickte starr auf die Umgebung und fragte mich zum tausendsten Mal: Warum?

      Rastlos wanderte ich durch das Haus, alles erinnerte mich an Michael. Das ganze Haus war für mich voller Erinnerungen, ich konnte nichts auswählen, sie stürmten auf mich ein. Ich dachte, gleich geht die Tür auf und eine vertraute Stimme ruft „Hallo Kleines“. Aber es kam niemand.

      Solange ich im Haus war, war er auch da, in diesem Haus war etwas das uns liebte. Tausend Gedanken jagten mir durch den Kopf, schöne, schmerzliche, wie Lichtblitze, sich im Nichts wieder auflösend.

      Ich sah aus dem Fenster, die gegenüberliegende Häuserfront lag noch im Dunkeln. In unserem Schlafzimmer standen Farbeimer herum. Das Bett war leer und unbenutzt, Michael hatte am gestrigen Morgen noch aufgeräumt. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen ordentlich zusammengefaltet seine Lieblingsjeans und der blaue Pullover. Michael war sehr ordentlich, er ließ seine Sachen selten herumliegen. Er war stets darauf bedacht, dass alles seinen Platz hatte und angemessen behandelt wurde. Er war direkt aus der Kaserne in seiner Arbeitsuniform zu Oma Helene gefahren.

      Mein Blick schweifte weiter umher. Da lagen neben dem Sessel der Gedichtband von Lord Byron aus dem er mir oft vorlas, James Joyce Ulysses und ein Reiseführer über Norwegen. Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, ich strich zärtlich über den schon etwas abgegriffenen Einband des Gedichtbands. Tief in mir konnte ich seine sanfte, tiefe Stimme hören mit einem Zitat von Lord Byron hören:

      „Die Liebe ist im Leben des Mannes eine Sache für sich, für die Frau ist sie das ganze Leben.“

      Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, ich fröstelte, spürte wie mir das Atmen schwer fiel, ich eine nicht gekannte Enge in der Brust fühlte. Ich drückte das Buch fest an mich. In meinem Kopf hörte ich ihn, er war da.

      Der Schmerz der Trennung hielt mich gefangen, schärfte meine Wahrnehmung, so dass sie fast über real wirkte. In der Stille hörte ich in meinen Gedanken vertraute Geräusche, Lachen, Hämmern, Summen, Musik. Jetzt drehe ich durch.