Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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sie könne fliegen.

       Es war einfach atemberaubend.

       Sie musste sich nur konzentrieren, und schon hob sie ab.

       Sie schwebte über dem Boden.

       Mit ihrer Willenskraft allein konnte sie bestimmen, wie hoch sie flog und wie lange.

       Losgelöst von der Erde, hinauf und hinunterschwebend, zog sie ihre Kreise. ...‘

      Ich hätte ihm ewig zuhören können, er hatte eine faszinierende Stimme, dunkel und klangvoll, erotisch. Ich dachte über das Gedicht nach, ‚mit ihrer Willenskraft allein konnte sie bestimmen...‘ Wenn man will schafft man alles, das ist wirklich wahr. Ja, wir werden es gemeinsam schaffen, ich muss nur fest genug daran glauben. Keine Zweifel mehr, alles wird gut.

      War das schon wieder dieser elende Wecker, dieses Folterinstrument? Es konnte noch nicht Morgen sein. Ich war doch erst vor fünf Minuten eingeschlafen, so fühlte es sich jedenfalls an. Gehörte das Geräusch zu meinem Traum?

      Ich blinzelte, es war noch nicht richtig hell. Ich hielt mir die Ohren zu, jetzt drehe ich durch. Es dauerte einen Moment bis ich das schrille Klingeln als das Klingeln des Telefons erkannte. Irgendwie hatte es sich mit meinem Traum vermischt.

      Ich nahm es nicht gleich als real wahr. Doch dann war ich schlagartig hellwach, ich dachte das ist der Anruf, vor dem ich mich so sehr gefürchtet hatte. Er ist tot. Panisch rannte ich die Treppe hinunter. Nahm zwei Stufen auf einmal. Tausend Gedanken stürmten auf mich ein. Ein Anruf um diese Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.

      Ich blieb kurz vor dem immer noch läutenden Telefon stehen. Starrte es an, hatte Angst abzuheben. Einen Atemzug später hatte ich den Hörer in der Hand, ich erschrak erst Mal vor der wiedereingekehrten Stille.

      „Hallo?“ hauchte ich ins Telefon. Meine Stimme versagte, ich bekam keine Luft mehr. Ein Schreckensszenario nach dem anderen lief in Windeseile wie ein Film in mir ab. Da war sie wieder, die bodenlose Panik, sie erstickte mich fast. Ich glaubte ins Unendliche zu fallen. Der Hörer zitterte in meiner Hand.

      „Miriam, hier ist Sabine, alles ist gut.“ Dann sagte sie überglücklich, „er ist aufgewacht“. Es sprudelte voller Freude aus ihr heraus, „er ist ansprechbar, ich hoffe ich habe dich nicht zu sehr erschreckt, aber ich dachte du solltest es gleich wissen. Ich fahre zu ihm, willst du mit?“

      Was für eine Frage, selbstverständlich wollte ich mit.

      „Ja, soll ich zu dir kommen oder holst du mich ab?“

      „Ich hole dich in einer viertel Stunde ab, bis gleich“, antwortete Sabine.

      Mein Herzschlag setzte für ein zwei Takte aus. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Tränen liefen mir vor Erleichterung übers Gesicht.

      Michael war vor ungefähr einer Stunde zu sich gekommen. Er war ansprechbar, er reagierte! Mir fiel ein tonnenschwerer Stein vom Herzen. Ich wollte zu ihm, sofort! Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Hastig zog ich mich an, putzte mir die Zähne, duschen konnte ich später noch, einmal durch die Haare gekämmt und eine Spange. Fertig. Ich brauchte keine zehn Minuten.

      Sabine stand eine viertel Stunde nach dem Anruf vor meiner Tür. Ich stieg zu ihr ins Auto. Wir umarmten uns. Hielten uns einen Moment gegenseitig in den Armen.

      Auf der Fahrt schwiegen wir, irgendwie hatten wir beide Angst davor, was uns erwarten würde. Waren überwältigt von der Unvorhergesehenen und doch so sehnlich herbeigewünschten Wendung. Die Straßen waren zu der frühen Stunde noch ganz leer. Es war kurz nach halb fünf Uhr morgens. Ich war ihr dankbar, dass sie es mir gleich mitgeteilt hatte.

      Auch in der Klinik herrschte noch die Stille der Nachtschicht, von der morgendlichen Betriebsamkeit war noch wenig zu spüren. Das Krankenhaus war in eine gespenstische wirkende Ruhe getaucht. Die Gänge waren menschenleer, verlassen im grellen Neonlicht. Mir fiel auf, dass alles einen Grünstich hatte.

      Als wir auf der Station ankamen war niemand zu sehen. Da überkam mich das erste Mal der Gedanke, dass keine Besuchszeit war. Was soll’s, dann warten wir halt. Sabine ging ins Schwesternzimmer, ich folgte ihr. Zwei Schwestern befanden sich im Raum, die eine trug Werte in die Krankenblätter ein, die andere lehnte am Schrank mit einer Kaffeetasse in der Hand. Wir kannten uns bereits, ich lächelte die Stationsschwester an.

      Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus. Sie wussten schon darüber Bescheid, dass wir kommen würden, eine der beiden hatte Sabine angerufen.

      Sie nickte in Richtung Michas Zimmer.

      Schnell zogen wir uns den grünen Kittel über, wir kannten uns in der Zwischenzeit sehr gut mit dem Prozedere auf der Station aus. Als wir in den Raum betraten, war ich enttäuscht, denn er lag genauso regungslos im Bett wie immer. Es sah aus als würde er schlafen.

      Was hatte ich erwartet? Als ich neben dem Bett stand konnte ich sehen, dass er die Augen geöffnet hatte und an die Decke starrte. Sabine stand auf der anderen Bettseite. Sie hatte ganz feuchte Augen. Ich sagte leise „Hallo“ und strich ihm über den Kopf. Er hatte uns längst bemerkt, die Pupillen bewegten sich. Ich sah in seine Augen, sie hatten einen müden, matten Glanz, es wirkte als sei er in einer anderen Welt.

      Diese wunderschönen großen, blauen, warmen Augen, sie hatten mich von Anfang an verzaubert. Oft dachte ich mir, in ihnen liegt die Seele der ganzen Welt, er musste mich nur ansehen und ich konnte nur noch dahin schmelzen. Es waren ungewöhnlich klare Kinderaugen, umrandet von einem dichten Kranz langer, pechschwarzer, leicht geschwungener Wimpern. Es war ein intensives Blau, manchmal funkelten sie dunkel wie Saphire mit kleinen goldenen Sprenkeln.

      Sie standen in einem harten Kontrast zu seinen sandblonden Haaren, zu seinen Zügen und seiner Statur, aber gerade dieser Kontrast bildete den besonderen Reiz. Diese Augen die so sehr vor Begeisterung und Freude strahlen konnten und die manchmal so viel Traurigkeit ausdrückten.

      Ich nahm seine Hand, sie war kalt. Seine Blicke schweiften zwischen Sabine und mir hin und her. Er konnte nicht sprechen, bewegte nur wie angedeutet den Kopf. Ich spürte während ich ihn ansah meine trockene Kehle, die Atemlosigkeit, den schnellen Herzschlag, alles Anzeichen von Furcht, die keine Furcht war. Sein Blick schweifte zu mir herüber. Ich schwieg, lächelte ihn an, strich ihm zärtlich über die Wange. Trotz allem war ich glücklich.

      Hoffnung keimte auf, dass es vielleicht doch noch wieder wie früher werden könnte. Überleben, leben, nur das zählte jetzt. Nur nicht zu weit in die Zukunft planen, das Hier und Heute war wichtig. Es war ein Tag zum Feiern.

      Sabine sprach leise mit ihm, sie streichelte ihn. Seine Augen bewegten sich zu ihr. Er schien uns zu erkennen. Ein gutes Zeichen. Wir waren beide unendlich erleichtert und glücklich. Sabine küsste ihn zum Abschied auf die Stirn. Er war endlich aufgewacht. Wir hatten ihn zurück.

      Tom kam am Abend zu mir, wir kochten uns Tee und redeten. „Hat er schon irgendetwas gesagt, als ihr da ward?“ fragte er mich.

      „Nein, aber er hat die Augen bewegt, ich glaube er hat uns erkannt. Ich bin so erleichtert, ich bin so froh, dass er aufgewacht ist.“

      Ich wollte mir einreden, dass alles gut werden würde, dass das Schlimmste überstanden war. Die Zukunft schönreden. Ich redete unaufhörlich, vor allem um, mich selbst zu überzeugen.

      Tom war sehr nachdenklich, ich nahm ihn in den Arm. Er schüttelte den Kopf, es bedrückte ihn etwas. Die ganze Zeit schon, aber er wollte nicht darüber reden. Auch wenn er es nicht aussprach beschäftigte ihn seit dem Unfall die Frage: Warum Michael, warum nicht ich?

      Normalerweise fuhr Tom immer als erster, was für einen Grund gab es an dem Freitag die Reihenfolge zu ändern? Keinen. Es hatte sich so ergeben, Michael hatte bereits in der kleinen Straße gewendet und stand vor ihm. Er brauchte etwas länger weil, er noch den Handschuh, der heruntergefallen war, aufheben musste. Gab es so etwas wie Schicksal?

      „Glaubst du er wird wieder?“ fragte er mich abwesend und spielte mit einer Hand mit dem Medaillon, das