Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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ich fühle mich so hilflos. Der Arzt sagt, immer nur wir müssten abwarten und Geduld haben. Wie lange?“

      „Ich kapier das Ganze einfach nicht, es ist so sinnlos….“

      Fortschritte machten sich nur schleichend bemerkbar. Die Wochen die folgten waren schwer, mikroskopisch kleine Schritte nach vorne und immer wieder herbe Rückschläge. Es war wie Achterbahn fahren. Es war ein Bangen und Hoffen, bitte überlebe. Sein Körper war böse mitgenommen von dem Unfall. Seitdem er stabil war, konnten weitere Folgeoperationen durchgeführt werden. Sie setzten ihm sehr zu, er verkraftete sie nur schwer. Jedes Mal brauchte er lange um sich zu erholen.

      Er bekam Fieber, hatte Kreislaufprobleme. In seinem Körper wimmelte es inzwischen von Nägeln und Platten, die die gebrochenen Knochen zusammenhielten und fixierten. Die Sorge um ihn brachte mich fast um. Ich machte mir viele Gedanken. Jetzt, nachdem er wach war, spürte er die Schmerzen. Er bekam Medikamente, er litt trotzdem.

      Es fiel mir sehr schwer zuzusehen, denn ich konnte nichts tun. Diese Ohnmacht in der Situation war kaum zu ertragen. Er konnte nicht sprechen, seine Lippen waren ganz blass und spröde. Das Gesicht eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, die Blutergüsse unter den Augen waren zwar verschwunden, dafür hatten sich dunkle Schatten gebildet. Er war sehr blass. Seine Finger bewegten sich in einem ruhelosen Greifen. Ich konnte nur erahnen was in ihm vorging. Er sah verzweifelt aus. Mit der Zeit klammerte er sich nicht mehr ans Leben, es war ihm gleichgültig geworden.

      Ich liebte ihn über alle Maßen, mein Innerstes krümmte sich beim Gedanken, dass ich ihn immer noch zu jeder Zeit verlieren könnte. Die Aura des Todes umgab immer noch seine inzwischen seht zerbrechliche Gestalt. Ich lief vor der Gewissheit davon, dass zwei Sekunden Unachtsamkeit unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatten, ich hatte schreckliche Angst vor der Zukunft, vor der Ungeheuerlichkeit dessen, was noch auf uns zukommen würde.

      Zusätzlich zu der alles überschattenden Sorge um Michael gab es auch noch den Alltag. Das war anders als in den amerikanischen Serien, die im Fernsehen liefen. Bei denen gab es immer ein Happy End, und die Angehörigen hatten kein Leben außerhalb einer treusorgenden Familie und guter Freunde. Ich musste arbeiten, einkaufen, den Alltag bewältigen.

      Zu allem Überfluss hatte ich massive Geldsorgen, meine Finanzen verschlechterten sich von Tag zu Tag. Auf einmal musste ich von meinem Praktikanteneinkommen und dem, was ich am Wochenende im Glamour dazuverdiente, überleben.

      Nachdem solche Katastrophen immer nur anderen passieren, und das Geschehene völlig außerhalb unseres Denkens lag, hatten wir für eine Situation wie diese keinerlei Vorkehrungen getroffen. Deshalb hatten wir auch keine gegenseitige Bankvollmacht.

      Micha bekam von alldem nichts mit, er befand sich im Stadium eines Kleinkindes. Die Raten für das Haus wurden von seinem Konto per Dauerauftrag abgebucht, und den Löwenanteil unseres Lebens finanzierte normalerweise Michael. Es hatte bislang prima funktioniert. Jetzt nicht mehr. Von dem Bisschen, das nach den festen Ausgaben übrig blieb, musste ich Lebensmittel und Benzin und meine Fahrkarte und alles, was ich sonst noch brauchte, kaufen. Es reichte nicht. Zusätzlich hatten sich etliche unbezahlte Rechnungen für Baumaterial und Strom angesammelt. Die bezahlte normalerweise auch Micha. Michas Sold war auf seinem Konto eingefroren.

      Für mich war es frustrierend. Ich hatte mein Konto schon massiv überzogen und überlegte, wie ich noch mehr einsparen konnte. Irgendwie wuchsen die Ausgaben ständig. Verzweifelt suchte ich nach Lösungswegen. Ich griff nach jedem Strohhalm, der sich mir bot, einer war, die Monatskarte einzusparen und mit dem Zug schwarzzufahren.

      Ich mochte es zwar nicht, ich fühlte mich unwohl mit all den vielen Menschen um mich herum. Ich lebte in der ständigen Angst ertappt zu werden. Das Bahnfahren kostete viel Zeit, ich wäre unter den gegebenen Umständen lieber die ganze Strecke mit dem Auto gefahren oder mit der S-Bahn, aber die zusätzlichen Benzinkosten konnte ich mir nicht leisten. Ich versuchte, dem Schaffner aus dem Weg zu gehen oder mich schlafendzustellen. Immer in der Hoffnung mich so durchzumogeln. Es hat zum Glück oft geklappt, aber ich bin nun mal nicht zum Schwarzfahren geboren, mein Herz schlug mir jedes Mal bis zum Hals. Und es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

      Mein Stolz stand mir im Weg, ich stand mir im Weg. Ich wollte weder meine Eltern, in keinem Fall Sabine, nicht einmal Tom um Hilfe bitten und ich versuchte, mir nichts von meinen Problemen anmerken zu lassen. Ich wollte es allein schaffen und überlegte fieberhaft wie.

      Eine Maßnahme war mehr nebenher zu arbeiten. Ich sprach mit Martin, dem Geschäftsführer des Glamours und fragte ihn, ob ich ein weiteres Wochenende und zwei Tage unter der Woche zusätzlich arbeiten könnte. Er reagierte nicht gerade begeistert auf meinen Vorschlag, ich musste mich voll ins Zeug legen um ihn zu überzeugen.

      „Schaffst du das, du siehst doch jetzt schon hundemüde aus.“

      „Martin ich drehe noch durch wenn ich abends allein zu Hause sitze. Ich brauche Ablenkung und das Geld, ich schaffe das schon“, drängte ich ihn.

      „Wie geht es Micha?“

      „Er ist wach, es geht langsam bergauf.“

      „Das Ganze wirkt immer noch so unglaublich, es ist unfassbar.“ Er zündete sich während er mir ausweichend antwortete, eine Zigarette an.

      „Komm gib mir eine Chance, ich schaffe das schon. Wenigstens Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, ok? Und alle vier Wochenenden“, bohrte ich weiter nach.

      „Lass es uns probieren“, willigte er letztendlich ein.

      Er war von meiner Idee nicht überzeugt, ich glaube er hatte Mitleid mit mir. Er glaubte, dass ich mich übernähme. Er kam mir soweit er es verantworten konnte entgegen. Und schützte mich vor mir selbst. Er gab mir eine Chance, vielleicht auch weil er spürte, wie wichtig es für mich war.

      In meinem Wortschatz fehlten schon seit meiner Kindheit ein paar Vokabeln, „Ich kann nicht“ und „niemals“ und „kannst Du mir helfen“. Es fiel mir so unsagbar schwer um Hilfe zu bitten oder wenn sie mir angeboten wurde, sie anzunehmen. Irgendetwas sträubte sich in mir, ich ging bewusst über meine Grenzen. Manchmal hasste ich mich für meinen falschen Stolz. Das Problem lag in meiner Verletzlichkeit, ich hatte Angst abgewiesen zu werden. Oder angreifbar zu sein, Schwäche zu zeigen, sie einzugestehen. Am meisten schadete ich mir mit dem Verhaltensmuster selbst.

      Im Nachbarhaus wohnte ein nettes älteres Ehepaar, sie sollten meine nächste, zusätzliche Einkommensquelle werden. Ich hatte ihnen schon hin und wieder bei kleinen Besorgungen geholfen. Die beiden waren ganz reizend, ihre eigenen Kinder lebten in einer anderen Stadt. Sie hatten keinen, der sie in ihrem Alltag unterstützte. Wir hatten uns bei diversen Gesprächen beim Bäcker und auf der Straße vor dem Haus kennengelernt. Letztes Jahr, als wir das Haus gekauft hatten und anfingen zu renovieren, waren unsere Nachbarn erst mal sehr gespannt darauf, wer denn die Neuen sind. Unsere Nachbarn waren mehr als überrascht gewesen, als sie feststellten, dass in ihren Augen noch Kinder das stark renovierungsbedürftige Haus gekauft hatten. Frau Weber schenkte uns oft Kuchen. Ihr Mann gab uns viele hilfreiche Ratschläge für den Umgang mit der Denkmalschutzbehörde. Wir hatten uns mit den beiden angefreundet, und Frau Weber liebte es uns zu bemuttern. Als ich Frau Weber das nächste Mal auf dem Gehsteig vor dem Haus traf, nahm ich all meinen Mut zusammen. Es fiel mir nicht leicht, nachdem wir erst einige Zeit über Belanglosigkeiten und Michael gesprochen hatten, fragte ich, ob sie Hilfe im Haushalt gebrauchen könnte. Glücklicherweise reagierte sie so wie ich gehofft hatte, sehr erfreut über mein Angebot.

      „Miriam das würde uns sehr helfen, vor allem, Sie wissen ja selbst, wenn man älter wird geht vieles nicht mehr so leicht von der Hand. Aber wird es Ihnen nicht zu viel, Sie arbeiten doch schon soviel.“

      „Solange ich etwas tue lenkt es mich ab. Kein Problem“, antwortete ich lächelnd.

      „Wenn es wirklich nicht zu viel ist, sind zehn Mark pro Stunde in Ordnung?“ Mehr als ich gehofft hatte, und eine Erlösung, dass sie es mir von sich aus anbot.

      „Ja, ich würde gerne in der Früh bei ihnen vorbeikommen, denn ich fahre nachmittags meistens gleich in Krankenhaus. Passt Ihnen das?“