Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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ich bin nachdem wir aus der Klinik zurückgefahren waren, gleich zu meiner Mutter weiter gefahren. Ich war die ganze Nacht bei ihr. Ramona hat bei uns zu Hause das Telefon bewacht. Sie kann es gar nicht fassen.“

      „Wie geht es ihr?“

      „Sie ist nur noch ein Häufchen Elend. Micha war schon immer ihr Lieblingsenkel.“

      „Ich weiß, sie hängt sehr an ihm, bei ihr ist er immer Kind.“

      „Ist Tom bei dir?“

      „Ja, er schläft in unserer Küche. Wann fährst Du wieder hin?“

      „Ich gehe jetzt Duschen und danach fahre ich los, mich bringt die Warterei noch um. Ich komme mir vor wie ein Tiger im Käfig.“

      „Ich komme später mit Tom, wenn irgendetwas ist, ruf mich bitte an.“

      „Klar, er ist stark, er wird es schaffen, bis später“, sagte sie mehr zu sich selbst zum Abschied.

      Ohne ein Geräusch zu verursachen ging ich zurück auf die Dachterrasse. Dicker Nebel lag noch über dem Fluss, inzwischen war es ganz hell. Hier oben fühlte ich mich ihm nah. Wir hatten uns sofort beide in das Haus verliebt, als wir es das aller erste Mal besichtigt hatten. Es war das einzige weit und breit, das ein flaches Dach hatte. Der grandiose Ausblick hoch über den Dächern der Stadt war unbezahlbar, wenn die Sicht gut war, konnten wir das gesamte Alpenpanorama der Werdenfelser und Allgäuer Alpen sehen. Unser Haus war bereits über zweihundert Jahre alt, es hatte solide dicke Mauern. Es war unser Heim, unsere Burg, in die wir uns zurückziehen konnten. Das Haus steht in Mitten des historischen Hexenviertels. Wir mussten viel Überzeugungsarbeit im Vorjahr bei meinen Eltern leisten bis ich die Erlaubnis bekam, es gemeinsam mit Michael zu kaufen.

      Sie hielten es für eine wahnwitzige Idee, ihnen ging die Geschichte mit Michael viel zu schnell. Wieder so sinnlos verschwendete Energie, warum taten wir uns solche Dinge nur gegenseitig an? Wir hatten uns gegenseitig sehr verletzt. Beim Kampf gab es keine Gewinner. Am Ende hatte ich mich durchgesetzt, aber um welchen Preis.

      Liebevoll hatten wir es das letzte Jahr über renoviert, waren aber lange noch nicht fertig. Es hatte drei Stockwerke, die Front war schmal mit vielen Fenstern. Nach hinten bot es viel Platz, hatte aber keine Fenster, da die Häuser aneinander gebaut waren wie viele Häuser in der Gegend.

      Als wir es kauften hatte es viele lange schmale Zimmer. Michael und ich hatten mit Toms Hilfe einige Wände eingerissen und somit größere Räume geschaffen. Es war noch viel zu tun, im Moment lebten wir hauptsächlich in Provisorien.

      Ich musste daran denken, wie lange wir kein fließendes warmes Wasser gehabt hatten. Ein Luxus den ich sehr vermisst hatte. Wenn ich mir die Haare waschen wollte musste ich Wasser in der Küche auf unseren Kochplatten heißmachen. Danach habe ich es töpfeweise ins Bad getragen, na ja, mein Bad war halt nur lauwarm. Den ganzen letzten Sommer lang. Trotzdem erschien mir die Zeit wundervoll. Ich dachte an letzten Sommer.

      Draußen war es heiß. Ich hatte mir Bademilch ins Wasser gemixt. Es roch betörend nach Maiglöckchen. Ich wusch meine Haare und rief Micha damit er mir beim Abspülen half. Das ging zu zweit eindeutig besser. Er goss mir aus einem Topf lauwarmes Wasser über den Kopf, um den Schaum aus meinen langen Haaren zu waschen.

      Seine Hilfe barg Zärtlichkeit und Fürsorge in sich. Er liebte meine langen Haare, spielte gerne damit, manchmal half er mir auch beim Kämmen. Schon wieder füllten sich meine Augen mit Tränen.

      Ich schaute zum Himmel und fragte mich ein weiteres Mal: Warum!?!

      Warum konnte dieses Auto nicht 20 cm weiter auf seiner Fahrbahnseite fahren, warum sind wir nicht fünf Minuten früher losgefahren? Warum musste der Mann seine Zigaretten ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt suchen? Warum? Es war so sinnlos. Warum hat Micha selbst nicht früher reagiert? Warum waren wir zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort? Wo war der Sinn in dem Ganzen? Es war unbegreiflich. Warum!

      Das Knarzen der Dachbodentreppe, die auf die Dachterrasse hinauf führte, verriet mir, dass Tom wach war. Im nächsten Moment sah ich ihn durch die Luke empor steigen. Ich versuchte ihn anzulächeln. Der Versuch missglückte. Er kam auf mich zu, nahm mich in den Arm, hielt mich fest, sodass es fast schmerzte.

      Das Warten lähmte uns, es machte blind und taub, verwandelte die Welt um uns herum in konturlose Schatten. In mir stiegen Gefühle hoch gegen die ich nicht gewappnet war, ich atmete wie bewusstlos, unterbrochen von tiefem Schluchzen. Bilder flimmerten vor meinem inneren Auge vorbei. Ich versuchte sie zu erfassen, ehe sie in der Dunkelheit versanken. Ich sah Michael deutlich, lächelnd, die Gedanken brachten mich fast um. Tom ging es nicht viel besser.

      Unser Atem stockte, unsere Herzen pochten schwer, weil die Katastrophe mit jeder Minute realer wurde. Wir standen eine ganze Zeit eng umschlungen da, mir liefen Tränen über das Gesicht. Ich konnte nichts sagen. Ich wollte schreien, aber ich brachte keinen Laut heraus.

      Tom hatte auch Tränen in den Augen. Die Erinnerung an das Geschehene war so präsent, sie war so überwältigend, jede Pore meines Herzen zog sich in Panik zusammen bei dem Gedanken, Michael zu verlieren.

      Gegen Mittag fuhren wir mit Toms Motorrad ins Krankenhaus. Als wir uns vor dem Haus anzogen fragte er mich, „Ist es wirklich ok für dich oder willst du lieber Auto fahren?“

      „Nein, so sind wir schneller.“

      Er bestieg sein Motorrad und ich setzte mich hinter ihn. Tom drehte den Zündschlüssel auf Fahrstellung und drückte den Elektrostarter. Mit einem entschiedenen Fauchen erwachte der Motor zum Leben. Im nächsten Moment gab die Kawa das so vertraute dumpfe Röhren von sich, lief mit höheren Touren, da der Choke gezogen war. Tom drehte sich um, “Alles ok?“

      Ich nickte und umklammerte seine Taille. Er trat den ersten Gang nach unten, die Kupplung rastete ein. Er verlagerte das Gewicht und schaute sich ganz automatisch um, ob sich ein anderes Fahrzeug nähert bevor er los fuhr. Die Maschine setzte sich kraftvoll in Bewegung. Sicher ließ er sie den Berg hinunter rollen, schaltete in den zweiten Gang, gab Gas und bremste gleich wieder an der nächsten Kreuzung. Ich rutschte ein Stück nach vorn. Um in Richtung Weilheim zu kommen, mussten wir erst den Kern der Altstadt umfahren, alle Straßen waren zu Einbahnstraßen erklärt worden. Das überall vorhandene Kopfsteinpflaster brachte uns und das Motorrad zum Vibrieren.

      Tom fuhr gelassen und sicher. Meine Gedanken eilten voraus, was würde uns erwarten? In meinem Inneren hatte sich eine beklemmende Angst festgesetzt. Ich hielt mich an Tom fest, seltsamer Weise beruhigte das Motorradfahren meine Nerven, es fühlte sich an wie ein sanftes hin und her wiegen. Motorradfahren verband ich unbewusst mit vielen guten Erinnerungen.

      Die Landstraße schlängelte sich durch die Dörfer. Dazwischen Felder, Wald und Wiesen, saftig grün, Blumen wie bunte Tupfen am Straßenrand, Weizen, der noch grün war, der Mais noch nicht zu seiner vollen Höhe aufgeschossen. Es roch nach Bergwiese und frischem Gras.

      Die Sonne schien, es war ein warmer Tag, nur wenige kleine weißen Wölkchen am strahlend blauen Himmel. Die Dörfer sahen so idyllisch aus, ordentliche Gärten, die Häuser gepflegt, mit prächtigen Geranien an den Balkonen. Alles wie vor ein paar Tagen, als wäre nichts gewesen.

      Tom überholte einige Autos, fuhr an den wenigen Ampeln, an denen wir halten mussten, immer an die Spitze der wartenden Fahrzeuge. Er stand so sicher mit seinen langen Beinen, er hatte kein Problem den Boden zu erreichen. Ich berührte nur mit den Zehenspitzen den Asphalt wenn ich selber fuhr. Ich fuhr gerne, blieb aber nicht gerne stehen, weil ich dann unsicher war. Ich hielt mich mit beiden Armen an ihm fest, spürte die langen geschmeidigen Muskeln.

      Tom erhöhte die Geschwindigkeit, die Kawa dröhnte, ich spürte kaum Fahrtwind hinter seinem breiten Rücken. Ich schloss die Augen.

      Ich hatte das Gefühl in die Tiefe zu sinken, im Sog eines Strudels meiner Erinnerungen unterzugehen. Ich stellte mir vor, nichts wäre wahr, Michael und ich machten einen Ausflug. Das kernige Dröhnen des Motorrads vermischte sich mit dem Fahrtwind, zu einer eigenen Melodie. Die Kurven waren nur durch ein sanftes Schwingen von einer zur anderen Seite spürbar. Ich folgte dem