Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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Teil von ihm für mich retten.

      Ich blickte zu Boden, der Fußboden im Bad war noch immer nicht verfugt. Mein schönes Rosenmuster. Wie hatte er sich über mich lustig gemacht, ich, die noch nie in ihrem Leben gefliest hatte und von einem Rosenmosaik als Fußboden im Badezimmer träumte.

      Er hatte mir gesagt, wenn ich es unbedingt so haben wollte, soll ich es bitte selber machen. Wenn er Fliesen verlege, dann ganz Normale, ich hätte die Wahl. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt und dann damit angefangen. Ich hab’s gelegt, aus vielen kleinen Fliesenscherben in verschiedenen rosa und roten Tönen. Es war ein langwieriges Projekt, ich musste immer wieder etwas verändern um das Bild, das in meinem Kopf existierte in die Realität umzusetzen. Es sah etwas eigenwillig aus. Es war fast fertig, jetzt hätte es verfugt werden können.

      Ich lief weiter durchs Haus, in unserer Küche war Tom auf einem Küchenstuhl eingeschlafen. Sein Kopf lag auf zum Kopfkissen verschränkten Armen. Die Haltung musste schrecklich unbequem sein. Ich holte eine Decke aus dem Wohnzimmer. Ich drückte mein Gesicht in den weichen Stoff, Micha und ich hatten oft auf dem Sofa unter ihr zusammen gekuschelt.

      Wie soll das nur weiter gehen? Alles und jedes führte mir vor Augen, wie schmerzlich ich ihn vermisste. Es war als wäre ein Teil aus mir herausgerissen. Der Schmerz fühlte sich wie eine große, klaffende Wunde an, die sich nicht schließen will.

      Zurück in der Küche legte ich die gelb-orange gestreifte Baumwolldecke behutsam über Toms breite Schultern. Er rührte sich nicht, er schien tief zu schlafen.

      Von der anderen Seite des Raums an den kleinen Schrank aus Kiefernholz, auf dem die Kochplatten standen gelehnt, betrachte ich ihn. Michael und Tom waren sich auch äußerlich sehr ähnlich, nachdem sie auch nur elf Monate auseinander waren konnte man sie glatt für Zwillinge halten. Toms Haar war einen Tick dunkler und weniger störrisch. Er hatte dieselben feinen Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, große mandelförmige Augen. Nur dass seine dunkel waren. Dichte Wimpern umkreisten sie. Die Brauen formten einen ebenmäßigen Bogen. Seine Lippen waren schmäler, er hatte dieselben Grübchen, die sich vor allem beim Lachen abzeichneten. Seine Haut war gleichmäßiger, er hatte keine Sommersprossen. Er sah so friedlich aus.

      Er trug wie immer die Kette mit dem Medaillon um den Hals, sie verlieh ihm etwas Feminines, passte nicht wirklich zu ihm, aber er legte sie nie ab. Er hatte den Anhänger mit der Hand fest umfasst, als wollte er etwas festhalten, bewahren. Seine Schultern bewegten sich im Rhythmus seiner gleichmäßigen Atemzüge. An was er jetzt wohl dachte, träumte er? Hoffentlich ein guter Traum. Seine langen Beine reichten bis zum anderen Ende des Tisches.

      Er war noch athletischer als Michael, machte mehr Sport. Spielte Basketball, lief Langstrecke in einem Tempo bei dem keiner von uns mithalten konnte und war genauso wie seine Brüder ein guter Schwimmer.

      Die perfektere Ausgabe von den beiden. Tom machte alles in seinem Leben ein Stück perfekter als alle anderen. Nur zu Frauen hatte er ein etwas eigentümliches Verhältnis, er behandelte sie wie Wegwerfartikel, warum war mir schleierhaft. Er war mein bester Freund. Ich war sehr dankbar, dass er da war.

      Zurück im Wohnzimmer, suchte ich nach unserem medizinischen Lexikon, ich wollte einige Begriffe nachzuschlagen. Begriffe die der Arzt gestern Abend gebraucht hatte, in meinem Kopf bildeten sie bislang nur leere Worthülsen. Ich konnte mich an jeden einzelnen erinnern, mein Gedächtnis war schon immer exzellent. Das lag an den Spielen die ich schon seit frühester Kindheit machte, alles zu zählen, mir Dinge ganz genau einzuprägen und sie mir dann vor mein geistiges Auge zurückzuholen. Ich machte das um meiner Angst Herr zu werden und um mich aus dem Hier und Jetzt zu verabschieden, in meine Feenwelt zu flüchten. Halt zu finden.

      In der Schule hatte mein außerordentlich gutes Gedächtnis mir viele Vorteile eröffnet, ich lernte schnell, konnte mir Dinge, die ich wissen musste kurzfristig exzellent merken und wie aus einem photographischen Gedächtnis abrufen.

      In der Ecke des Raumes waren noch viele nicht ausgepackte Kisten gestapelt. Ich suchte weiter nach dem Buch, es musste irgendwo sein. Wir müssen unbedingt dieses Kistendurcheinander in den Griff bekommen dachte ich, man findet nichts auf Anhieb. Ich suchte eine nach der anderen systematisch durch. ‚Wir könnten einen eigenen Bücherladen eröffnen‘, ging es mir durch den Kopf. Bislang hatten wir nur einen Bruchteil unserer Bücher ausgepackt. Diese füllten jedoch bereits eine ganze Wand.

      Wir wollten, sobald die Küche im ersten Stock fertig war, dort eine weitere Bücherwand installieren und eine weitere entlang der Treppe. Im Schlafzimmer lagen unsere Lieblingsbücher gestapelt auf dem Boden. Wir hatten vor, auch dort noch ein Regal zubauen. Endlich fand ich es in der vorletzten Kiste. Das Gesundheitslexikon war ein dickes Buch mit vielen Illustrationen und in blauem Leder gebunden. Es fasste sich schön an.

      Die Liebe zu Büchern war ein weiterer Punkt, der uns verband.

      Ich schlug den Begriff Polytrauma nach und fand folgendes:“ Definition nach TSCHERNE, 1978; ‚Unter einem Polytrauma versteht man ein gleichzeitig entstandenes Verletzungsmuster mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, von denen mindestens eine Verletzung oder die Kombination mehrerer lebensbedrohlich sein müssen.‘

      Klang nichtssagend, das wusste ich schon, es folgte eine Abhandlung der einzelnen Detailbilder, die ich schnell überflog. Jetzt war ich auch nicht schlauer als vorher. Danach blätterte ich weiter zum Buchstaben S. Der nächste Begriff war Schädelhirntrauma; „Unter einem Schädelhirntrauma (SHT) versteht man eine vorübergehende oder dauerhafte Schädigung des Gehirns als Folge der Einwirkung eines stumpfen oder penetrierenden Traumas. In der klinischen Beurteilung hat sich die 1974 von TEASDALE und JENNETT eingeführte Glasgow Coma Scale (GCS) international durchgesetzt. Sie dient der initialen Bestimmung der Schwere eines Schädelhirntraumas, der Verlaufsbeurteilung und der Prognoseabschätzung. Es erfolgt die Unterscheidung in

      - Leichtes SHT: 15-13 Punkte

      - Mittelschweres SHT: 12-9 Punkte

      - Schweres SHT: 8-3 Punkte“

      Ich konnte mir der Erklärung nicht viel anfangen. Klang wie böhmische Dörfer. Ich legte das Buch wieder weg. Irgendwie fehlte mir die innere Ruhe, um mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

      Was bedeutete ein Traumawert von 8? War es gut, besorgniserregend, sein Todesurteil? Normalerweise wäre ich jetzt in die nächste Bibliothek und hätte mir sämtliche verfügbare Literatur besorgt, um den Sachverhalt bis ins letzte Detail zu verstehen. Auch eine Macke von mir, ich verspüre den Zwang, Dinge zu verstehen, damit ich sie begreifen kann, damit ich mich sicher fühle.

      Wie eine Katze um den hießen Brei schlich ich um das Telefon. Starrte es an, wünschte mir es sollte klingeln, aber bitte nur mit guten Nachrichten. Überlegte ob ich im Krankenhaus anrufe, verwarf den Gedanken wieder. Nahm den Hörer in die Hand, fing an zu wählen, legte wieder auf. Die würden mir sowieso nichts sagen, für die war ich kein Familienmitglied. Wir waren noch nicht verheiratet. Sollte ich Sabine anrufen? Nein sie hätte bestimmt angerufen, wenn es irgendetwas Neues geben würde. Ich hypnotisierte das Telefon, es tat sich nichts. Ich lief hin und her, soll ich oder soll ich nicht? Die Ungewissheit zerfraß mich. Mit weichen Knien wählte ich die so gut bekannte Nummer. Beim ersten Klingeln hatte Sabine schon abgehoben.

      „Hallo...“ hörte ich ihre vertraute Stimme in den Hörer hauchen, die Stimme die sonst einen dunklen, festen Klang hatte, klang jetzt zerbrechlich und rau.

      „Hallo Sabine, ich bin’s”. Ich nahm einen Seufzer der Erleichterung wahr. „Hast du schon irgendetwas aus der Klinik gehört?“

      „Ich hab vorher angerufen, es hat sich nichts verändert. Wir sollten uns darüber freuen, es bedeutet auch, dass es nicht schlimmer geworden ist.“

      „Kann es überhaupt noch schlimmer werden?“ fragte ich mit bereits brüchiger Stimme, ich wollte nicht Heulen, aber der Klos in meinem Hals wuchs sekündlich. Ich schluckte ein paar Mal, kniff mich in den Arm.

      „Wahrscheinlich nicht, ich begreife das Ganze nicht, irgendwie will ich es nicht wahrhaben. Mein armes Baby.“

      Bei dem Gedanken, das sie Michael immer noch als ihr Baby bezeichnete,