Lisa Schoeps

Poet auf zwei Rädern


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dahin gleiten können. Jäh riss mich das Fehlen der beruhigenden Geräuschkulisse aus meinen Gedanken. Tom hatte den Motor abgestellt, wir waren da.

      Ich stieg ab, schluckte einige Male, um meine Fassung zurückzuerlangen, setze meinen Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Wortlos liefen wir das kurze Stück bis zum Eingang.

      Es war, als wäre die Zeit stillgestanden. Alles war noch genauso, wie wir es in der Nacht verlassen hatten. Der einzige Unterschied war, dass auf der Station nun geschäftiges Treiben herrschte. Wir sprachen mit einer jungen Ärztin die Dienst hatte, sie sagte uns, dass es noch keine weitere Stabilisierung gebe, sein Leben hänge immer noch an einem seidenen Faden, man müsse abwarten. Wir fragten ob wir zu ihm dürften, ja aber nur ganz kurz. Sabine hatte ihr Einverständnis gegeben, dass ich ihn jederzeit besuchen konnte.

      Wir mussten uns wieder grüne Kittel überziehen. Der Raum hatte noch immer die gleiche gespenstische Ausstrahlung. Michael lag noch genauso im Bett wie wir ihn ein paar Stunden zuvor verlassen hatten. Das normale Klinikbett mit seiner Begrenzung an beiden Enden war zu kurz für ihn, man hatte ihn diagonal gelegt. Er sah, verglichen mit den anderen Patienten, aus, als ob er nicht ins Schema passen würde. Unbeweglich, wie eine Hülle, eine Puppe, die verrutscht war, schoss es durch meine Gedanken.

      Sein Gesicht hatte sich verändert, seine Züge wirkten eingefallen. Seine Augen waren immer noch fest geschlossen und inzwischen blutunterlaufen, er sah aus wie eine Eule.

      Ich hätte ihn gerne umarmt, festgehalten, so wie wir es immer machten. Ich weinte still. Auf dem Monitor war die gleiche Kurve wie in der Nacht zu sehen, springende grüne Punkte, die miteinander verbunden waren. Das war gut so. Er piepte monoton vor sich hin. Diese kleinen Ausschläge am Monitor sollten in den nächsten Wochen noch zu etwas sehr Beruhigendem für mich werden. Solange die Ausschläge da waren bedeutete das, dass er noch lebte. Sein Herz schlug noch.

      Ich nahm seine Hand und redete still mit ihm. Sie fühlte sich kalt an. Ich strich über sein Gesicht. Das Beatmungsgerät gab zischende Geräusche von sich. Tom stand da und beobachtete uns beide. Tom und ich tauschten ein kurzes schmerzliches Lächeln aus.

      Ich konnte Michaels Nähe spüren. Hell wach und gleichzeitig wie in Trance spürte ich die völlige Andersartigkeit der Situation durchwebt von dem surrealen Gedanken, dass es sich nur um einen bösen Traum handelte. Die Empfindung war verwirrend, es war wie ein Schock, verbunden mit dem fast kindlichen Glauben, dass es eine heile Welt geben musste.

      Ich sehnte mich nach ihm, hatte das Gefühl an meinem Kummer zu ersticken. Jeglichen Halt zu verlieren und vom Strom meiner nicht mehr kontrollierbaren Gefühle mitgerissen zu werden. Meine Knie wurden weich, Tom hielt mich fest. Er löste meine Hand aus Michaels und sagte, es sei besser wenn wir wieder gingen. Ich folgte ihm stumm. Konzentrierte mich darauf, ein Bein vor das andere zu setzen. Es kostete mich fast übermenschliche Kraft nicht loszulassen und zusammenzubrechen.

      Auf diese Weise vergingen endlose Tage. Einer wie der andere, alle jedoch irgendwie gleichförmig, voller Verzweiflung, immer geklammert an den zarten Strohhalm, das er es schon schaffen würde.

      Michael war jung, athletisch und gesund. Vielleicht morgen, vielleicht wacht er dann auf. Nach einer Woche hatte sich sein Zustand soweit stabilisiert, dass er außer Lebensgefahr war, nur wollte er nicht aufwachen. Die Stationsärztin versuchte uns zu beruhigen, sie erklärte uns, dass es bei derart schweren Verletzungen öfters zu einer länger anhaltenden Bewusstlosigkeit kommen könne. Wir sollten versuchen die positiven Aspekte zu sehen, sein Kreislauf sei nun stabil, er atme selbstständig und das EEG sähe gut aus. Und er hatte die erste Folgeoperation den Umständen entsprechend gut verkraftet.

      Ich hatte trotzdem Angst, es war wie ein einziges Meer voll dunkler Wolken. Die schreckliche Angst ihn zu verlieren überlagerte alles. Sie lähmte mich. Ich redete mir immer wieder selbst gut zu. Nur nicht den Glauben verlieren, der Kampf sei noch nicht verloren. Mein Leben lief wie ferngesteuert. Ich konnte die Situation nur ertragen, indem ich alle Gefühle verbannte. Indem ich das verletzliche Kind in mir ganz weit weg sperrte, es in einen dunklen Kerker schloss, nur um nicht verrückt zu werden. Panik wuchs von allen Seiten hoch, wie schwarze Wände. Aber noch Schrecklicher konnte es nicht mehr werden, bestimmt nicht. Denk nicht daran. Das Einzige was ich wollte war bei ihm sein, ganz nah, ich wollte ihn nicht gehen lassen. In stillen Gesprächen habe ich ihn gebeten, ihn angefleht zurückzukommen. Nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen.

      Die Nächte waren am schlimmsten, Nacht für Nacht wachte ich mit denselben Alpträumen auf. Konnte erst nicht einschlafen, spielte in Gedanken das Was-Wäre-Wenn-Spiel. Versuchte, die in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken, meinen Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen. Zählte Gegenstände, spielte mit Zahlenreihen um mich abzulenken.

      Doch das alles beherrschende Gefühl war Angst, bodenlose, panische Angst, die mich langsam von innen auffraß. Was wird sein, wenn Micha nicht mehr aufwacht, was, wenn diese kleine Maschine nicht mehr piept. Ich besuchte ihn jeden Tag, redete mit ihm, las ihm aus unserem Lieblingsband von Lord Byron oder aus dem Ulysses vor, hielt seine Hand, und hatte jeden Tag, wenn ich die Station betrat Angst, dass das Bett leer sein könnte.

      Kapitel 4

      Im Juli wurde die Fußball WM in Spanien immer spannender. Die Spiele waren eine willkommene Ablenkung und Deutschland war wie durch ein Wunder durch alle Vorrundenspiele gelangt. Am Vorabend hatte Deutschland im Halbfinale der WM in einem Fußballkrimi Frankreich im Elfmeterschießen besiegt.

      Eigentlich interessierte mich Fußball nicht sonderlich. Tom hatte darauf bestanden, dass ich mitkomme und mir das Spiel mit den anderen in unserer Stammkneipe anschaue. Er wollte nicht, dass ich Abend für Abend allein zuhause sitze und grüble.

      Es war verblüffend, wie sehr sich die Volksseele anlässlich eines Fußballspiels verbrüdern konnte. Und wie nah Freude und abgrundtiefe Enttäuschung beieinander lagen.

      Während Frankreich sich nach einer 3:1 Führung in der Verlängerung bereits im Finale wähnte, schaffte es die deutsche Mannschaft nochmals, sich zurück ins Spiel zu kämpfen und erzielte den Ausgleich.

      Nach 120 Minuten stand es 3:3 und die Partie ging ins Elfmeterschießen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle hielten den Atem an, schauten gebannt auf die Mattscheibe in der Ecke des Raums. Bei jedem Schuss der deutschen Mannschaft aufs Tor die Hoffnung, dass der Ball hinein geht. Immer abwechselnd. Schlimmer konnte kein Thriller sein.

      Auch im Stadion herrschte kurz vor jedem Schuss eine Grabesstille. Dann, nach jedem Tor, lauter und unbändiger Jubel. Wie lange sollte das noch so weiter gehen?

      Maxime Bossis legte sich den Ball zurecht, trat an und scheiterte beim letzten Elfmeter. Der Jubel in der Kneipe und bei den deutschen Fans im Stadion kannte keine Grenzen, alle lagen sich in den Armen. Er brachte Frankreich damit um das Finale.

      Deutschland, das mit einem Bein bereits ausgeschieden war, war zurück wie der Phönix aus der Asche. Finale! Wer hatte daran noch geglaubt! Die ganze deutsche Fußballnation schwebte im siebten Himmel.

      In der Zusammenfassung des Spiels wurde die brutale Attacke von Toni Schumacher, dem deutschen Torhüter, gegen Patrick Battiston wiederholt. Er wurde dabei so schwer verletzt, dass er bewusstlos vom Platz getragen werden musste. Die Szene hatte für zusätzliche Frustration gesorgt und dafür, dass sich die Franzosen ungerecht behandelt fühlten.

      Die Szene mit dem Torhüter verfolgte mich im Schlaf. Sofort waren die Gespenster wieder präsent. In dieser Nacht träumte ich einen sehr verworrenen Traum, eine neue Variante, ein Mix aus dem Fußballspiel und dem Unfall.

      Ich wälzte mich in dem großen, doch so leeren Bett umher. Schreckte immer wieder hoch, stand auf, lief etwas umher. Holte mir Michas Lieblingspulli, rollte ihn zusammen und legte meinen Kopf darauf. Sog den vertrauten Geruch ein. Und weinte. Er fehlte mir so sehr. Ich versuchte an etwas Schönes zu denken, an unsere guten Zeiten.

      Ich versuchte mir seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, wenn er mir ein Gedicht vorlas. „Once a Perfect Woman“ von Paul Wilson kam mir in den Sinn. Ich konnte seine tiefe, sanfte, samtene