Holger Rudolph

Giftmord statt Goldschatz


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dunkel in der kleinen Stadt. Und ein bisschen neblig.

      Neben den ersten Frühblühern in den Gärten sorgt an diesem Morgen nur die Feuerwehr für etwas Abwechslung. Ihre sämtlich ehrenamtlich arbeitenden Kameraden werden schon zum fünften Mal im noch keine drei Monate alten Jahr zum Aquapark am Großen Rheinsberger See gerufen. Wieder einmal soll es dort ein Feuer geben. Jedenfalls hat ein elektronischer Brandmelder Alarm geschlagen. Weshalb die Technik immer wieder behauptet, Flammen zu erkennen, wo es überhaupt keine gibt, bleibt ein Rätsel, das den Brandbekämpfern seit Jahren einen Teil ihrer Freizeit raubt.

      Sandy kennt ihre Pappenheimer: Im nächsten Haus auf der linken Seite wird gleich ein Dobermann gegen den Zaun springen und energisch kläffen. Und danach wird aus dem geöffneten Badezimmerfenster des Hauses dahinter das Einlaufen des Wassers in die Wanne zu hören sein, so wie an jedem Morgen. Manchmal hört sie kurz darauf den dort lebenden Rentner in seiner Badewanne Gassenhauer einer längst vergangenen Zeit singen: „La Paloma“, „Die Capri-Fischer“, „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“. In seiner Wanne wird der alte Herr wieder zum gefeierten Tenor, so wie vor Jahrzehnten in Wien, Bayreuth und zuletzt in Berlin. Seine Stimme ist noch immer wunderbar voll und jeder Ton sitzt. Nur, dass er heute keine Arien mehr schmettert, sondern sich - der Situation der Kleinstadt angemessen – volkstümlich gibt. Über die ollen Kamellen in der Frühe wird sich bestimmt niemand beschweren, glaubt der Künstler. Bisher hat er damit recht behalten. Wer lange genug verweilt, kann erleben, wie er sich nach jedem Gesangsvortrag überschwänglich beim imaginären Publikum für dessen Applaus bedankt.

      Bis zu dem alten Herrn kommt Sandy Schmitting heute nicht. Auf der Straße liegt ein Mann. Sie kennt ihn, so wie ihn halb Rheinsberg kennt. Bautischler Bernd Bergner ist alle paar Wochen in der Lokalzeitung abgebildet. Einmal geht es um seine Mitarbeit im Karnevalsverein, ein anderes Mal um ihn als Stadtverordneten einer Bürgerliste, nicht zuletzt wird auch über seine Arbeit als Umweltschützer und Freizeithistoriker berichtet. Noch vor einer Woche hatte sie den fröhlich vor sich hin pfeifenden Mann auf ihrer morgendlichen Tour getroffen. Eigentlich habe er gar keinen Grund, derart lustig drauf zu sein, sagte er damals. Denn es plagten ihn enorme Zahnschmerzen. Dann grinste er: „Sandy, Du Schöne, ich pfeife trotzdem, denn ich habe ein wunderbares Geheimnis.“ Plötzlich hatte er inbrünstig zu singen begonnen: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n“. Sandy dankte für das Kompliment. Sie hatte ihm schon fast empfehlen wollen, dass er sich doch sehr gut mit dem Badewannen-Tenor zusammentun könnte. Vielleicht würde daraus eine super Karnevalsnummer. Doch sie lächelte nur.

      Die Blumen, der Hund, aber kein Sänger. Plötzlich ist alles anders und erschreckend ungewohnt. Bernd Bergner liegt vor ihr auf der Fahrbahn. Sie springt entsetzt vom Rad, sie spricht ihn laut an, doch er reagiert nicht. Seinen Puls sucht sie vergebens. Auch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung holen den Toten nicht mehr ins Leben zurück. Andere Frauen, auch viele Männer, hätten in so einer Situation die Nerven verloren und geschrien. Doch Sandy bleibt ruhig und tippt auf ihrem Smartphone den Notruf der Polizei ein, 110. Bis Rettungskräfte und Polizisten eintreffen, soll sie vor Ort bleiben und die vermutliche Unfallstelle sichern. Doch es gibt um diese Tageszeit hier nicht viel zu sichern. So bleibt ihr genug Zeit, ihren Arbeitgeber von dem Vorfall zu verständigen. Dabei denkt sie allerdings nicht an den Leiter der Zustellung. Sie will die Redaktion über den Toten informieren, damit der Märkische Anzeiger möglichst schnell vor Ort sein kann.

      Aufgeschreckt

      „Die Sandy, und schon wieder mal zu einer Zeit, zu der nur Wahnsinnige an Arbeit denken, geschweige denn bereits auf der Straße sind, um für'n Appel und 'n Ei Zeitungen auszutragen.“ Heiko Reimer spricht laut mit seinem Handy-Display, das ihn darüber informiert, wer zu dieser frühen Stunde etwas von ihm will. Nicht zum ersten Mal ruft ein Zusteller am zeitigen Morgen bei Redakteur Reimer vom Märkischen Anzeiger an. Erst letztens teilte ihm der für den Ortsteil Fleckenerhütte zuständige Bote mit, er habe für einige Minuten ein Ufo beobachtet. Dafür, dass etwas gänzlich Sonderbares vor sich gegangen sei, spreche auch, dass in seinem Autoradio plötzlich nur noch fremdsprachige Sender zu empfangen gewesen seien. Das mit den Sendern hat Reimer selbst schon erlebt, allerdings gibt es dafür eine rationale Erklärung. Bei bestimmten Wetterlagen sind die polnischen UKW-Stationen aus dem Raum Stettin deutlich stärker zu hören als jene aus Berlin und Brandenburg. Weil einige von ihnen auf denselben Frequenzen senden, kommt es zu dem Phänomen, das den Zusteller verwunderte. Leider könne er den Vorfall nicht beweisen, hatte er zu Reimer gesagt, denn er habe sein Handy nicht dabei gehabt, mit dem er das Ufo hätte fotografieren oder filmen können. Was der Bote tatsächlich beobachtet hatte, blieb unklar.

      Auch im Falle eines Brandes sind es meistens die Zusteller, die dafür sorgen, dass möglichst schnell ein Schreiber vor Ort ist. Dinge, die man sich selbst und seiner Familie auf keinen Fall wünscht, sind heute wie vor 150 Jahren der Stoff, der am ehesten zu einer guten Zeitungsgeschichte taugt. Reimers Job befindet sich im Wandel. Als er vor mehr als 20 Jahren bei dem Blatt begann, hatte er seine Artikel noch auf der Schreibmaschine getippt. Viele Berufsgruppen von damals sind im Verlagsgeschäft der Gegenwart verzichtbar. Zuerst traf es die Setzer, später die Fotografen. Der Redakteur ist längst zur sprichwörtlichen Eier legenden Woll-Milch-Sau geworden. Kein schöner Zustand. Immerhin gibt es trotz deutschlandweit zurückgehender Tageszeitungsauflagen noch viele Menschen, die am frühen Morgen in ihrem Heimatblatt etwas finden wollen, das sie bewegt. Sie möchten im Laufe des Tages mit Anderen darüber sprechen und zeigen, dass sie sich dazu eine Meinung gebildet haben. Allerdings gilt das kaum für die Unter-40-Jährigen. Sie sind lieber in Netzwerken unterwegs, als eine Tageszeitung zu abonnieren. „Nee, das wird nicht mehr anders“, spricht Reimer abermals laut vor sich hin, „da helfen auch keine Strukturreformen am Aufbau des Blattes“.

      Nachdem zum fünften Mal der Refrain von Queens „We will rock you“ verklungen ist, geht der leicht genervte Endvierziger ans Telefon. Ein möglicher Mord also, das kommt in einer kleinen Stadt wie Rheinsberg tatsächlich nicht täglich vor. Mehr noch, das kommt eigentlich gar nicht vor. Und sollte es doch passieren, dann dürfte sich einiges ändern im Städtchen. Normalerweise ist das Leben für den Reporter hier bis auf die sich häufig stundenlang streitenden Stadtverordneten überwiegend unspektakulär. Ganz anders als in den Vorabendserien im Fernsehen, in denen auch in Kleinstädten alle Nase lang jemand niedergemetzelt wird. Mittlerweile dürfte halb Wismar ausgerottet sein und nach Kitzbühel sollen absolut unbestätigten Quellen zufolge demnächst potenzielle Opfer aus Deutschland importiert werden.

      Langweilig war es für den Reporter trotzdem kaum einmal. Es hatte in den vergangenen 20 Jahren auch ohne Morde eine ganze Reihe von Themen gegeben, über die Reimer als einer der Ersten schrieb und die schließlich bundesweit für Schlagzeilen sorgten. So hatte ein Mann behauptet, von der DDR-Staatssicherheit zum Auftragskiller ausgebildet worden zu sein. Auch der Verfassungsschutz war überzeugt von den Erzählungen des angeblichen Täters, der seinerzeit reihenweise Mitmenschen liquidiert haben wollte. Am Ende der Ermittlungen stellte sich heraus, dass er alles erfunden hatte.

      Gut bei den Einwohnern an kamen fast immer Reimers Artikel über das Thermalbad. An der schönen Fiktion Therme arbeiten sich schon mehrere Bürgermeister ab. Falls die Stadtverordneten demnächst der Einstellung eines persönlichen Referenten für den Rathauschef zustimmen, wird das viel versprechende Bad eine von seinen Hauptaufgaben sein. Im Verlauf der Jahre wurden schon dutzende Investoren als potenzielle Bauherren gehandelt. Doch bis heute fand sich keiner, der das Risiko eingeht, in einer 8000-Einwohner-Stadt eine Therme zu errichten. Touristen sind hier vor allem von Mai bis September zu Gast, den Rest des Jahres wird es trotz einer Vielzahl von Klassik-Konzerten im Schlosstheater sehr viel ruhiger im Städtchen.

      Ein möglicher Mord beendet den Rheinsberger Frühjahrsschlaf. Heiko Reimer schaut rasch, ob der Akku in der Kamera ausreichend geladen ist und prüft sicherheitshalber auf einem Fetzen Papier, ob auch der Kugelschreiber seine Arbeit tut. In knapp 20 Minuten wird der in der benachbarten Kleinstadt Lindow lebende Lokalreporter vor Ort sein.

      Gefordert

      Das Klingeln ihres Handys reißt Kriminalhauptkommissarin Anna Klettner aus