Patrice Parlon

Das Böse bleibt!


Скачать книгу

      So sehr sie sich auch anzupassen versuchte, mit jedem Jahr schwand ihre Bereitschaft, weiterhin dort zu arbeiten. Auch wenn sie unter ihren Kollegen eine fand, die ihr alles erträglich machte. Auch die Arbeit selbst war nicht das Problem, sondern nur die Chefetage. Woche um Woche wurde ihre Chefin unzufriedener. Immer öfter brüllte sie ihre Arbeiter nieder und drohte die Firma zu schließen. Die Stimmung wurde permanent schlechter. Noch arrangierte sich Coline mit der Situation, nur wie lange würde es noch gut gehen? Kirsten brachte immer mehr Unruhe in die Truppe, da sie jeden unterschiedlich, jedoch nicht gerecht, behandelte. Während die einen nur eine vorsichtige Ermahnung bekamen, wurden andere regelrecht zur Schnecke gemacht. Diese Ungerechtigkeit setzte Coline immer mehr zu, bis sie von Rachegedanken beherrscht wurde. Das Einzige, was ihr noch im Wege stand, war der Drang, ihrer uralten Pflicht nachzukommen. Das stellte sie vor ein neues Problem. Wie sollte sie ihrem jetzigen Leben den Rücken kehren? Zumal sie die finanziellen Mittel trotzdem brauchte. Noch schwieriger war es, alle menschlichen Kontakte abzubrechen. Die beinahe partnerschaftliche Beziehung zu zerstören tat am meisten weh. Das alles für einen wahren Albtraum aufzugeben, wollte wohl durchdacht werden. Sie musste eine Entscheidung treffen und beschloss, ein für alle Mal mit den Fehlern ihrer Vergangenheit abzuschließen. Also ging sie wie jeden Tag an die Arbeit. Sie saß mit ihren Kollegen in der Firma und erwartete den nächsten Anschiss. Immer drohte ein ohrenbetäubendes Gebrüll wegen Nichtigkeiten. Was würde es diesmal sein? Etwas vergessen oder kaputt gemacht und dann verschwiegen? Vielleicht war es auch das eigenmächtige Entscheiden vom Vortag! Sie war gespannt, immerhin bestand die winzige Chance auf einen entspannten Start in den Tag. Noch lachten und spöttelten alle, doch sobald Kirsten in Sichtweite war wurde es totenstill. Erwartungsvolle Blicke hafteten an der Tür. Da stand sie, die Frau, die seit Wochen nur noch schlecht gelaunt war. Ein halbwegs freundliches „ Guten Morgen“ entwich ihrer Kehle. Gleich darauf zogen sich ihre Mundwinkel weit nach unten. Sie schaute kurz in die Runde und einer nach dem anderen senkte den Kopf. Die erste bissige Frage ging an Coline, die gestern noch das anhaltende Piepsen des Betriebsfahrzeugs bemängelt hatte. „Was hat denn gepiepst?“ Natürlich mischte sich ihr Gefährte Tom ein und knurrte genervt, dass mit dem Auto alles in Ordnung sei. Aber er hätte den Hebel, der das letzte Mal schuld war nachgezogen, auch wenn nichts piepte. Wieder einmal fühlten sich Coline und ihre Kollegin als Lügner. Sie erinnerte Kirsten daran, dass sie Zeugen vorweisen konnten. Darauf kam prompt die Antwort: „Ich habe auch einen Zeugen, dass nichts gepiept hat!“ Coline rollte die Augen. Warum nur machten sie sich die Mühe auf Mängel hinzuweisen? Sie bekam ja doch nur dumme Sprüche als Antwort. Auch die zweite Rüge galt ihr und ihrer Kollegin. Vorwurfsvoll forderte diese Furie eine Erklärung, warum sie ohne ihre direkte Zustimmung, den Anweisungen anderer gehorchten. Immerhin war sie Chef und brauchte einen offiziellen Auftrag, um die Bezahlung sicher zu stellen. Coline fragte sich, warum erst ausgehandelt wurde, dass die niederen Arbeiter entscheiden konnten, was noch zu erledigen war, wenn sie sich ja doch nicht daran hielt. Aber sie schwieg und sah kurz zu ihrer Kollegin hin. Sie war den Tränen nah, doch nicht aus Traurigkeit, sondern Wut. Immerhin war dies nicht der erste Anschiss des Jahres. Coline dachte augenblicklich darüber nach, wie sie sich revanchieren könnte. Da erkannte sie ihre Chance. Es gab eine ganz spezielle Methode, um ihrem Ärger Luft zu machen. Diesen Gedanken schrieb sie sofort in ihrer geheimen Schrift nieder, um den Frust vorerst loszuwerden. Nur so konnte sie sich auf die Umsetzung konzentrieren. Sie entschied, geduldig auf ihre Chance zu warten. Untätig blieb sie dabei aber nicht, denn eine effektive Rache musste gut durchdacht werden. Es betraf ja nicht nur ihre direkten Vorgesetzten, sondern auch die Feinde ihres beinahe vergessenen Vorlebens. Vielleicht gelang es ihr nicht, alle gleichzeitig zur Rechenschaft zu ziehen, aber sie setzte alles daran.

      Endlich beruhigten sich die Gemüter. Kirsten meckerte noch über die Arbeitsweise, indem sie Coline und Kollegin mit Wildschweinen verglich, die im Beet gewütet hätten. Coline lag so mancher böser Spruch auf der Zunge, aber sie blieb stumm, denn in diesem Augenblick kämpfte sie gegen ihre Wut. Noch war sie nicht soweit, aus sich heraus zu gehen.

      Kirsten näherte sich dem Ende ihrer Rede und verteilte die ersten Aufgaben. Zu allem Übel trennte sie Coline von ihrer liebsten Kollegin. Gerade jetzt, wo sie ihren Beistand gebrauchen konnte. Dann war sie dran. Erst einmal reguläre Aufgaben, dann die Fehler vom Vortag ausbügeln. Plötzlich tat sie wieder freundlich, doch Coline blieb distanziert. Diesmal ging sie nicht auf derartig wechselnde Launen ein! Sie hörte die Anweisungen und stimmte beinahe lautlos zu. Kirsten versuchte noch einen Witz zu machen, hatte aber keinen Erfolg. Coline hielt sich nicht länger auf, schließlich wollte sie nur noch weg. Kirstens Versuche, wieder nett zu sein, scheiterten schon im Ansatz. In solchen Momenten kochte in Coline all das wieder hoch, was lange im Unterbewusstsein vergraben lag. Schlimm genug, dass sie als Arbeiter nichts wert waren, aber musste sie immer noch nach treten? Jeden noch so kleinen Zwischenfall während der Arbeit strafte Kirsten mit einem bösen Blick. Verletzungen und Sachschäden bewirkten im ersten Moment Ärger und wenig später böse Kommentare oder Vorwürfe. Bestes Beispiel, gerade erst eine Woche zuvor geschehen. Colines Kollegin stieß sich heftig den Kopf an einem Schild und litt an einer Gehirnerschütterung. Coline sah sofort nach ihr, zwang sie, sich gegen ihren Willen hinzusetzen und sich etwas zu sammeln. Indes schrieb sie eine SMS an Kirsten, die erst Stunden später reagierte. Jedoch erkundigte sie sich nicht nach dem Befinden, sondern spottete: „Wir werden ab Montag die Helmpflicht für sie einführen.“ Auch am nächsten Arbeitstag interessierte es sie nicht im Geringsten. Nur wenig später schnitt sich Coline tief an einer Glasscherbe, was nicht einmal kommentiert wurde. Kirsten war dermaßen mit sich beschäftigt, dass sie ihre Arbeiter völlig vergaß. Seit Wochen dachte sie nur an Geld. Allein deshalb gebärdete sie sich bei jeder Kleinigkeit, wie eine wilde Furie. Jedoch sollte sie auch einmal daran denken, dass ihre Leute nicht ewig als Sandsäcke herhalten wollten. Früher oder später warfen sie das Handtuch und suchten sich andere Arbeit. Viele von ihnen waren sowieso schon nah an der Rente oder an ihren körperlichen Grenzen. Auf Nachschub würde sie vergeblich warten. Das hatte sie oft genug versucht und ist jedes Mal leer ausgegangen, denn niemand will so schwer ackern und dazu noch angebrüllt werden. All diese Dinge schwirrten in Colines Kopf herum. Zu alledem war ihre Ersatzkollegin für diesen Tag auch keine Hilfe. Sie redet pausenlos auf sie ein, dieses Gemecker nicht persönlich zu nehmen. Sie wollte Coline beruhigen, doch die fühlte sich nicht aufgebracht. Sie dachte nur an alle Ereignisse, die bewiesen, dass die Arbeiter in dieser Firma nichts wert waren. Trotzdem redete sie sich ein, dass auch dieser Tag ein weiterer belangloser Zwischenfall war. Nichts weiter als ein Überdruckventil, weil Kirsten mit sich selbst unzufrieden war. Sie war ja nur stinkig, weil ihre Truppe selbstständig arbeiten konnte und nicht auf Knien angekrochen kam. Coline brauchte diese Einstellung. Einerseits aus reinem Selbstschutz, andererseits um die Ruhe zu bewahren. Noch konnte sie sich nicht abreagieren. Also klammerte sie sich an ihre größte Stärke. Sie konnte problemlos alle Vorwürfe ignorieren. Über Jahre trainierte sie mit verschiedenen Charakteren, bis ihr Fell dick genug war. Sie verstand sich darauf, alles Gehörte so zu filtern, dass nur der Kern der Aussage haften blieb. Alles andere verdrängte sie wie kein anderer, vergaß es aber nicht. Sie regte sich nicht über solch unberechenbare Menschen auf. Im Gegenteil. Deren Wut fachte ihre Fantasie an. Sie würde es auch später darauf anlegen, dass sie wütend herum brüllten, jedoch aus ganz anderen Gründen. Das machte ihr das Leben mit diesen Menschen leichter. Für Coline war Kirsten das klassische Beispiel für „erst brüllen, dann denken“.

      Im Laufe des Tages redete sie weiter mit Nina - ihrer Ersatzkollegin - über das Gezeter, da die einfach keine Ruhe gab. Obwohl Coline darauf beharrte, dass sie über solchen Dingen stand, glaubte sie, sie wäre gereizt. Allerdings hatte sie Coline noch niemals richtig gereizt gesehen. Also erkläre sie ihr, dass sie ihren Zorn niederschrieb, um die Seele zu befreien. Allerdings war es eher eine Aufgabenliste, die irgendwann abzuarbeiten wäre. Unterdessen erreichte sie eine Nachricht von ihrer liebsten Kollegin. Sie kochte noch immer vor Wut und wollte am liebsten alles hinschmeißen, da das Maß endgültig voll war. Coline beruhige sie so gut sie konnte und schlug ihr vor, ihren Zorn auf Racheideen zu lenken, die sie dann mit Wonne auf ihre Liste setzte. Just in diesem Augenblick hatte sie einen Plan, wie Kirsten zu bestrafen wäre. Ab sofort stand sie auf derselben Stufe wie Colines Peiniger und würde miterleben, welche Abgründe in ihr lauerten. Schon sehr bald war es soweit. Es fehlte nur noch ein wichtiges Detail, um anzufangen.

      Für