Patrice Parlon

Das Böse bleibt!


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ihrem Fluch stellen, wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten. Seit ihrem letzten Versuch konnte sie wenigstens ein scheinbar normales Leben führen. Jedoch auf Kosten einer namenlosen Leiche. Alles nur, um in der breiten Masse nicht mehr aufzufallen. Sie machte sich daran, ihrer Pflicht nachzukommen und nutzte ihren ersten Urlaub, um einen bestimmten Menschen zu suchen. Kaum hatte sie ihr Ziel im Visier, musste sie einen passenden Augenblick abwarten, bevor sie sich zeigen konnte.

      Der letzte Nachkomme

      Es war einer dieser Tage, die man gerne vergessen will. Schon früh morgens ging alles schief. Jeder kennt das, man drückt den Wecker aus, dreht sich noch mal um und verschläft. Dann schreckt man hoch und verfällt in Panik. Jetzt geht es nicht mehr schnell genug und hastig greift man nach den Klamotten vom Vortag. Man hat ja keine Zeit mehr, um etwas Besseres zu finden. Überhastet stürmt man aus dem Haus und stolpert über alle möglichen Dinge. Hat man es endlich hinaus geschafft, stellt man fest, dass man nicht vom Fleck kommt. Ganz gleich ob mit dem Auto, dem Bus oder der Straßenbahn. Plötzlich steht man ratlos am Straßenrand und hofft, dass es nicht allzu viele Probleme nach sich zieht, wenn man zu spät kommt. Genau in solch einer Lage befand sich Loana. Ihr steckten eindeutig noch die zahllosen Albträume der letzten Nacht in den Knochen. In ihrer Verzweiflung blieb nur noch ein Anruf. Aber auch das sollte nicht sein! Ihr Telefon streikte. Gerade als sie zurück ins Haus gehen wollte, stellte sie fest, dass sie ihren Schlüssel auf dem Küchentisch vergaß. Doch damit hörten die Katastrophen noch nicht auf. Sie machte nur einen Schritt auf die Straße, da geschah es! Ein PKW erfasste sie und schleifte sie meterweit mit, ehe er zum Stehen kam. Aber es war nicht irgendein Auto, es gehörte Johanna! Loana lag blutend am Boden, als die ersten Passanten stehen blieben und weitere heran stürmten. Nur eine hielt sich abseits und starrte gebannt in ihre Richtung, aber erst als Johanna floh, rannte sie auf Loana zu und schrie: „Mein Kind! Bist du verletzt?“ Loana verlor ihr Bewusstsein. Sie bekam nicht mehr mit, wie sie ins Krankenhaus gebracht wurde. Erst geschlagene drei Stunden später erwachte sie. Benommen sah sie sich um. Indem erschien ihr Arzt und fragte nach ihrem Namen. Loana sah ihn verwirrt an und stammelte: „Ich weiß nicht.“ Er fragte, wo sie wohnte, aber auch das konnte sie nicht beantworten. Er beruhigte sie und versicherte, dass ein Gedächtnisverlust nach solch einem Unfall nicht ungewöhnlich und außerdem nicht von Dauer wäre. Das tröstete sie überhaupt nicht. Sie war den Tränen nah, da sagte er: „Laut Ihrem Ausweis heißen Sie Loana Crepprit. Sie sind 25 Jahre jung und wohnen im Kamkertal Eins in Wechnais.“ So sehr sie sich auch anstrengte, sie erinnerte sich nicht. Einzig und allein der Vorname kam ihr bekannt vor. Dennoch konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, dass sie auch wirklich so hieß. Loana musste es erst einmal so akzeptieren. Sie hatte keine andere Wahl. Der Doktor riet ihr zur Ruhe. Kaum war er gegangen, da erschien die starre Beobachterin. Sie beugte sich an Loanas Ohr und flüsterte: „Du hättest mich fast im Stich gelassen.“ Loana musterte sie irritiert und fragte: „Woher kennen Sie mich?“ „Ich bin deine Urgroßmutter.“ Loana fühlte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Zumal diese Frau nicht älter als Dreißig aussah. Also fragte sie nach. „Wie heißen Sie?“ „Mein Name ist Coline!“ Verdutzt stammelte Loana: „Sie lügen! Sie sind viel zu jung, um meine Uroma zu sein. Ich bin mir sicher, dass ich Sie noch nie in meinem Leben gesehen habe!“ Coline stimmte ihr zu, versicherte aber, dass es die Wahrheit wäre. Sie trat den Rückzug an. Loana rief erschrocken: „Wo wollen Sie hin?“ Und bekam zur Antwort: „Du bist noch nicht bereit. Ich komme ein anderes Mal wieder.“ Coline war kaum zur Türe raus, da entdeckte sie Loanas Pflegeeltern. Schnell versteckte sie sich und beobachtete aus der Ferne. Nach einer Weile drehte sich Loanas Mutter zu ihr um und schickte ihr einen verärgerten Blick. Coline verstand nur allzu gut, was er bedeutete. Immerhin sah sie ihn schon oft genug bei Loanas Vorgängerinnen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehen. Sie wollte sich nicht schon wieder rechtfertigen. Auf halben Weg zur Tür kamen ihr drei Gestalten entgegen. Sie schaute nur kurz auf und erkannte sie sofort. Sie glichen alten, verhassten Bekannten. Johanna und ihre Handlanger! Es gab nur einen Unterschied. Diese waren jüngere Ausgaben ihrer Peiniger. Sofort drängten sich böse Erinnerungen in Colines Kopf. Diese Drei nahmen ihr fast alles. Auf eine bestialische Art und Weise. Coline wusste genau, warum sie gerade jetzt auftauchen. Sie wollten ihr grausames Werk fortsetzen. So oft haben sie es schon getan. Bisher ohne echten Erfolg. Schließlich „lebte“ Coline noch. Ihr Druckmittel sollte diesmal Loana sein. Nun galt es, alles Erdenkliche zu versuchen, um diese schier endlose Folterorgie zu beenden. Dazu brauchte sie nur eine günstige Gelegenheit, um auch Loana davor zu bewahren. Stunden vergingen und so geduldig sie auch warte, Johanna ließ Coline nicht mehr an Loana heran. Sie hatte keine andere Wahl, als sie weg zu locken. Nur wie? Coline wusste genau, dass sie ihr nicht nachlaufen würden. Aber wer sagte denn, dass sie es mussten? Es genügte sicher schon, Johanna als Unfallfahrer zu entlarven und sie würde abgeführt. So jedenfalls die Theorie. Ein kurzes Gespräch mit der Oberschwester und Coline wurde aus der Klinik gezerrt, nur weil ihr Johanna zuvor kam. Aber das war nur ein winziger Rückschlag. Noch konnten sie Loana nicht schaden. Dazu brauchte sie ihr erstes Opfer! Oder vielmehr den Ring - den Träger des Fluches. Doch den bekam sie nicht so einfach.

      Nur eine Stunde später kehrte Coline mit den Polizisten zurück. Es gab schließlich genug Augenzeugen, die Johanna als Fahrerin entlarvten. Kaum erkannte sie ihre missliche Lage, floh sie, dicht gefolgt von ihren Handlangern und den Polizisten. Coline machte sich schleunigst daran, ihren Plan umzusetzen. Sie stahl sich einen OP-Kittel und das nötige Besteck für eine Amputation. Loana lag friedlich schlafend im Bett, als Coline das Zimmer betrat und alles vorbereitete. Sie nahm ihre linke Hand und machte eine Faust daraus, dann bog sie den Mittelfinger hervor und setze eine Art Miniguillotine an. Damit wollte sie den Finger abtrennen, denn nur das allein schützte Loana vor Colines Peinigern. Unvermittelt ging die Tür auf! Die Nachtschwester kam herein! Coline ließ sofort ihr Werkzeug verschwinden. Sie tat, als würde sie den Puls fühlen. Rasch redete sie sich heraus: „Die Patientin schläft. Ich werde morgen früh wiederkommen.“ Gerade noch mal gut gegangen! Doch nun brauchte sie eine Idee, einen Plan B!

      Als Loana erwachte, entdeckte sie ein Buch auf dem Tisch. Es trug ein Symbol, das sie als Tätowierung auf ihrer Schulter hatte. Was sollte sie davon halten? Je länger sie es betrachtete, umso neugieriger wurde sie. Was mochte wohl in diesem Buch stehen? Vielleicht erfuhr sie die Bedeutung ihrer Tätowierung, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie dieses Bild bekam! Es gab nur einen Weg, um es herauszufinden. Sie musste das Buch lesen. Also nahm sie es und schlug es auf. Sie entdeckte ein Gedicht, das lautete: Eine Warnung vor dem Buch, in dem steht ein wahrer Fluch. Lass ihn nicht zu nah heran, weil er dich sonst töten kann. Loana lehnte sich zurück. Ihre Augen wichen aber nicht von diesem mysteriösen Schriftstück. Heftige Widersprüche plagten sie. Irgendwie wagte sie nicht, dieses Ding aufzuschlagen. Indem klopfte es an der Zimmertür. Sie zuckte zusammen. Mutig rief sie: „Wer ist da?“ Niemand regte sich. Plötzlich durchbrach ein Peitschenknall die angespannte Stille! Loana rutschte unwillkürlich unter die Decke. Sie war unfähig aufzuspringen oder wegzulaufen. Kurz darauf öffnete sich die Zimmertür. Da stand Coline! Nach einer Weile kam sie näher. Sie sah das Buch auf dem Tisch und griff danach. Sofort funkte Loana dazwischen und riss es an sich. Coline warnte: „Wenn du auch nur ein Wort davon liest, bist du verdammt! Du wirst niemals sterben und auf ewig Folterqualen erleiden!“ Loana glaubte kein Wort. Sie fragte nach: „Ist das ein schlechter Scherz? Das da ist doch nur ein Buch!“ Coline wiederholte ihre Warnung und fügte noch etwas hinzu: „Ich weiß, wovon ich rede. Ich war sein erstes Opfer und habe alle anderen bei ihrem Höllentrip begleitet. Keiner von ihnen hat Hoffnung auf Rettung! Es sei denn, du hilfst ihnen!“ Loana fragte ungläubig: „Warum ich?“ Die Antwort darauf gefiel ihr gar nicht. „Das Buch folgt einer Blutlinie. Ich habe all meine Nachkommen mit ins Unglück gestürzt.“ Loana hakte nach: „Was geht’s mich an? Ich bin nicht mit dir verwandt!“ Coline schnaubte abfällig und murmelte: „Du warst ihre letzte Hoffnung, jetzt werden sie niemals Frieden finden! Ich werde mich nicht opfern, nie wieder!“ Loana war nun noch verwirrter. „Warum ich? Meine Mutter ist eine angesehene Frau. Sie lebt nicht weit von hier und ich weiß, dass sie niemals verletzt wurde. Ich kann kein Nachfolger deiner Familie sein!“ Coline kehrte ihr mit einem verkniffenen Lachen den Rücken und ging in das winzige Bad. Loana folgte ihr sofort, doch war sie längst verschwunden. Es gab nur eine Tür. Dennoch war sie weg! Loana erschreckte