Patrice Parlon

Das Böse bleibt!


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den Kopf gehen. Knallte Coline mit der Peitsche? War das ein Schauermärchen? Einerseits interessierte sie, warum das Buch dieses Bild trug. Andererseits scheute sie den Blick hinein. Je länger sie da saß, umso schwerer wurde es, nicht danach zu greifen, um es vielleicht doch zu lesen. Es reizte sie immer mehr. Aber ihr ging die Warnung nicht aus dem Kopf. Schon bald kam ihr die Idee, dass sie dieses Buch nicht ohne Grund bekam. Loana hoffte inständig, dass alles nur ein böser Traum war. Doch nur um Klarheit zu bekommen, griff sie zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Eltern. Als sich ihr Vater meldete, platzte Loana einfach heraus: „Bin ich adoptiert?“ Es wurde gespenstisch still in der Leitung. Also fragte sie noch einmal. Plötzlich stotterte er: „Macht das einen Unterschied?“ Jetzt war alles klar! Loana zögerte einen Moment und plärrte durchs Telefon: „Ich will Antworten!“ Er versprach, ihr alles zu erzählen, sobald sie wieder gesund war. Aber Loana wollte es sofort wissen. So lenkte er ein und kam ins Krankenhaus. Er ließ den Kopf hängen, als er eintrat und sagte leise: „Ja, es ist wahr. Du bist adoptiert! Wir haben es dir nicht gesagt, weil wir uns nie als Fremde gesehen haben. Wir waren doch eine Familie!“ Loana atmete einmal tief durch und bat: „Erzähl mir trotzdem alles, was du weißt!“ Er zog ein fast schon antikes Album aus seiner Jacke und hielt es ihr entgegen. „Da drin steht alles, was du wissen kannst.“ Was meinte er? Gab es etwas, das sie nicht erfahren durfte? Zum Beispiel die Sache mit dem Buch? Sie wollte ihn fragen, aber zuerst sah sie in das Album. Vielleicht verheimlichte er ja etwas anderes.

      Neugierig setzte sie sich auf und sah sich den Einband an. Es wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie stierte vor sich hin, aber sie brauchte Antworten, also schlug sie es auf. Schon das erste Foto jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Es zeigte eine junge Frau, die kaum älter als Loana sein konnte. Ihre Gesichter ähnelten sich so stark, dass Loana ihren Vater fragte. „Ist das meine Mutter?“ Er stammelte: „Woher weißt du eigentlich, dass du adoptiert wurdest?“ Jetzt konnte sie einen guten Rat brauchen. Sollte sie ihm von Coline und dem Buch erzählen oder eine Ausrede erfinden? Noch ehe sie sich entscheiden konnte, riss er sie aus ihren Gedanken. „Das ist deine Großmutter!“ Loana erwiderte: „So sah Oma Anna aus?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein! Das ist sozusagen deine leibliche Oma!“ Sofort dachte sie wieder an Coline, obwohl diese Frau anders aussah. Konnte es trotzdem wahr sein? Gehörte Loana zu einer verfluchten Familie? Was nun? Sollte sie sich auf den Weg machen, um ihre leibliche Mutter zu suchen? Doch wozu? Immerhin ließ diese Frau ihre Tochter im Stich. Trotz allem reizte Loana die Chance, ihre Vergangenheit zu erforschen. Sie fragte nach ihrem Namen, aber ihr Vater kannte ihn nicht. Dann wollte Loana wissen, woher er das Bild hatte und er erwiderte: „Als wir dich abholten, gehörte es zu deinen Sachen. Wir haben es für dich aufbewahrt. Doch hatten wir keinen Kontakt zu deinen Blutsverwandten. Wir kennen nicht einmal ihre Namen.“ Auch auf die Frage woher die Tätowierung stammte, konnte er nichts sagen, denn dieses Bild hatte sie schon als Baby. Loana zweifelte daran, dass irgendwer ein Baby tätowieren würde, doch sie war der Beweis. Sie musste sich damit abfinden, dass der einzige Hinweis auf ihre Herkunft in diesem ominösen Buch steckte. Doch die Warnung bremste ihre Neugier. Sie beschloss, erst einmal darüber zu schlafen und verschob jede weitere Frage auf ein anderes Mal. Loanas Vater blieb aber noch eine Weile und blätterte das Album durch. Er versuchte klarzustellen, dass es keinen Unterschied machte, ob sie blutsverwandt waren oder nicht. Loana beruhigte ihn, denn sie wollte sicher nicht fortlaufen, um jemanden zu suchen, der sie niemals wollte.

      Als sie wieder alleine war, betrachtete sie die Fotos noch intensiver. Irgendwann fiel ihr etwas auf. Bei jedem Urlaubsbild oder öffentlichen Veranstaltungen tauchten immer dieselben vier Personen im Hintergrund auf. Sie standen ausnahmslos abseits und sahen in Loanas Richtung. In diesem Moment wünschte sie sich eine Lupe, um mehr Details zu erkennen. Leider hatte sie keine, so vertagte sie die Nachforschungen. Die Nacht wurde zur Tortur. Ein Albtraum folgte dem nächsten. Loana sah sich schreiend auf der Erde. Neben ihr standen fünf Gestalten mit Masken. Jeder von ihnen wollte sie verletzen. In ihrer Panik versuchte sie zu fliehen, schaffte es aber nicht. Diese Träume rissen sie immer wieder aus dem Schlaf. Schweißgebadet saß sie im Bett und starrte die Tür an. Ihr Blutdruck stieg bis an die Grenze zum Herzinfarkt. Nach vier solcher Albträume war es mit dem Schlafen vorbei. Loana stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und schwankte ziellos durch die Klinik. Als sie zurückkam, war das Album verschwunden und das Buch lag auf ihrem Kopfkissen. Es war geöffnet und ein geflochtenes Lederband klemmte darin. Auf der rechten Seite befand sich das Bild eines Saals und links der Text. Ein flüchtiger Blick auf das Bild zeigte ihr interessante Dinge. In diesem Saal gab es einen Altar und ein riesiges Kreuz, an dem etwas hing. Wieder war die Neugier groß. Sie wollte wissen, was es war und näherte sich dem Buch. Da schallte die Warnung durch den Raum. Loana sah sich erschrocken um und antwortete: „Ein Bild kann man nicht lesen!“ Doch erneut erklang Colines Stimme: „Jeder Blick in das Buch ist gefährlich. Du wirst es bereuen!“ Loana dachte einen Moment darüber nach und entschied, die Finger davon zu lassen. An den vielen Warnungen musste etwas Wahres sein. Also legte sie es weg. Sie vergrub sich unter der Bettdecke. Etwas später nickte sie ein. Der nächste Albtraum begann. Diesmal träumte sie sich in den Saal aus dem Buch. Sie ging langsam auf das Kreuz zu. Dabei tappte sie in eine Pfütze. Als sie nach unten sah, stand sie knöcheltief in einer Blutlache. Erschrocken sprang sie heraus. Plötzlich lachte eine Frau ganz gehässig. Loana drehte sich im Kreis und suchte nach ihr. Aber niemand ließ sich blicken. So wandte sie sich wieder dem Kreuz zu. Je näher sie kam, umso schauriger wurde es. Es ähnelte der Kreuzigung Jesu. Mit dem Unterschied, dass Loana dort oben hing. Dieser Anblick versetzte sie so in Panik, dass sie schreiend aufwachte. Das war zu viel! Sie wollte nichts mehr davon wissen. Sie griff das Buch und warf es in den Müll. Dieser Akt verschaffte ihr erst einmal Ruhe.

      Schon am folgenden Tag durfte sie das Krankenhaus verlassen. Sie fuhr nach Hause und erschrak. Irgendwer hatte ihre Wohnung verwüstet und nichts an seinem Platz gelassen. Loana überlegte nicht lange und packte hastig die wichtigsten Sachen. Sie wollte keinen Augenblick länger bleiben. Dann griff sie zum Telefon und rief sich ein Taxi. Der Fahrer kam schnell. Loana stieg ein und nannte ihm die Adresse ihrer Eltern. Dorthin wollte sie flüchten. Bei ihnen erhoffte sie sich Schutz, auch wenn sie nur Pflegeeltern waren. Immerhin wollten sie für Loana sorgen. Der Taxifahrer fuhr los. Loana sah ein letztes Mal zurück, da entdeckte sie eine winkende Schattengestalt an ihrem Küchenfenster. Sie forderte ihn auf, schneller zu fahren und er trat aufs Gas. Nach einer rasanten Fahrt standen sie vor Loanas Elternhaus. Sie warf ein Bündel Scheine auf den Vordersitz und sagte: „Stimmt so!“ Dann sprang sie aus dem Wagen, holte ihren Koffer und rannte hinter das Haus. Der Taxifahrer rief noch: „Das ist doch viel zu viel!“ Loana interessierte das nicht. Also fuhr er schulterzuckend weiter. Sie stand inzwischen an der Haustür und trommelte heftig dagegen. Erst nach Minuten ging das Licht an und ein fremder Mann schaute aus dem Fenster heraus. Sie erschrak. Sie glaubte am falschen Haus zu stehen, aber es war das Richtige. Aufgeregt fragte sie nach ihren Eltern und der Mann sah sie verärgert an. Er knurrte: „Die wohnen seit Jahren nicht mehr hier!“ Loana schrie ihn an: „Das kann überhaupt nicht sein! Ich war erst kürzlich hier!“ Er drehte sich weg und schloss das Fenster. Loana verzweifelte fast. Sie ließ ihren Koffer zurück und ging zum Nachbarhaus. Diesmal klingelte sie. Allerdings vergeblich. Es schien niemand da zu sein. Jetzt wusste sie sich keinen Rat mehr. Sie setzte sich auf die Türschwelle, stand rasch wieder auf und lief die Straße entlang. Schon bald stand sie vor einem Laden. Im Schaufenster spiegelten sich die Gestalten von den Fotos und Loana schnellte herum. Sie sah niemanden und fragte sich, ob sie verfolgt wurde. Plötzlich erschien ein stattlicher Mann. Er tippte ihr auf die Schulter und hielt ihr einen Ring entgegen, in dem ihre Tätowierung graviert war, neben sechs anderen Zeichen. Loana sah den Mann an und fragte nach seinem Namen. Er reagierte gar nicht darauf. Er versuchte nur, ihr den Ring aufzudrängen. Das war ihr alles zu viel und sie schrie ihn an: „Was soll das? Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe? Was habe ich euch getan?“ Er grinste schadenfroh und warf ihr den Ring vor die Füße. Sie sah eine Weile auf ihn herunter, doch aufheben wollte sie ihn nicht. Irgendwie ahnte sie, dass er ihr nur Ärger bereiten würde. Einmal tief durchgeatmet lief Loana zurück zu ihrem Elternhaus. Sie holte ihren Koffer und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Noch wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Sie fühlte sich überall beobachtet. Tagelang irrte sie umher. Sie nahm ein Hotelzimmer nach dem anderen und verkroch sich darin. Das machte sie zwei Wochen lang. Dann wurde ihr Geld knapp. Zu Hause lag noch ihre Notreserve,