Hugo Berger

Baker Island


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oder schlummert das Verbrecher-Gen ihrer Vorfahren in ihnen? Sie laufen alle einfach so frei herum wie eine Herde Schafe. Mein Bauch sagt mir ich gehör nicht hierher in Harveys Welt, so täuschend reizvoll sie im ersten Moment auch sein mag. Ich glaub meinem Bauch, yes I do. Also gilt es, die Nacht zu nutzen und dem zunehmenden Mond zu folgen, ohne es rationell begründen zu können. Mein Ziel sind die Berge und die Grenze. Vielleicht ist es zugleich auch die Grenze zu meinen Erinnerungen. Ich kann nur hoffen, dass ich dort Antworten finden werde, crazy, ich weiß. Allerdings macht mich diese Hoffnung stark genug, um Unglaubliches zu tun, genauso wie ich diese unüberwindbare Mauer im Auf und im Ab bezwungen hab.

      Im matten Mondlicht schimmert die Silhouette der Bergkette, der ich einem kleinen Bach entlang kontinuierlich folge. Beim Anblick der Gipfelkulisse weckt es ein angedeutetes Gefühl der Erinnerung, aber auch nicht mehr. Sie kommen nur zeitlupenartig näher, obwohl ich schon die ganze Nacht ohne Pause hindurchmarschiere. Zum Glück kann ich dem Bachlauf weiter ohne größere Hindernisse folgen. Erst im Morgengrauen mach ich Stopp, um mich mit dem Rest der Terrassenmahlzeit für den weiteren Weg zu stärken. Ich habe ein Waldgebiet erreicht, es duftet angenehm nach Eukalyptus. Unwissend was mich auf diesem Trip als nächstes erwarten wird, treibt es mich weiter. Im Lauf des Vormittages wird es allmählich bergiger. Für mich ein gutes Zeichen, dass ich meinem Ziel näher komme, und tatsächlich tun sich die Bergzacken immer mächtiger vor meinen Augen auf. Mein Begleiter und Wegweiser ist immer noch der Bach, der mir treu zur Seite steht, als ob ein Drehbuch es so vorsehen würde. Ungehindert und ohne jegliche Zwischenfälle stehe ich nun in der Mittagssonne am Fuß des respektablen Bergflankens, der mir einiges abverlangen wird. Ist meine Kondition dazu ausreichend? Das ist die falsche Frage, ich muss da hinauf, um auf die andere Seite zu kommen. Es gibt keinen anderen Weg, um meine Vergangenheit herauszufinden.

      So wie die kümmerlichen Krümelreste des Abendmahls zur Neige gehen, verabschiedet sich auch der Bach mit einem zauberhaften Anblick eines in der Sonne glänzenden Bergsees, dem er entspringt. Mein Fuß! Nicht ein einziges Mal hab ich an meinen linken Fuß gedacht. Erst jetzt fällt er mir wieder ein, als ich auf den Verband hinunterblicke. Egal, ich werd vorsichtig sein, so vorsichtig wie möglich. Vor mir taucht etwas einem Steig ähnlich sehenden schmalen Pfad auf, vielleicht von Ziegen oder anderen Tieren in den Hang getreten. Ich komme gut voran und es ist nicht der steile Hang der mir zu schaffen macht, sondern die brutale Hitze. Ein Hut wär gut gewesen zum Schutz vor der Sonnenglut, hätte ich wohl bei Harvey vorher bestellen sollen? Ich mach mich über mich selber lustig, das hilft. Einfach gehen, langsam gehen, nicht nachdenken. Hab ich Zweifel? Nein, das Ziel kommt immer näher, bald ist es zum Greifen nah. Mit ein bisschen Glück schaffe ich es bis zum Sonnenuntergang.

      Stopp! Ein gelbes Schild. Es ist bereits verblasst, vermutlich bleicht es schon jahrezehntelang in der Sonne dahin. Sie sind dennoch nicht zu übersehen, diese gelben Schilder hier, in beachtlicher Höhe im Abstand von circa 100 Metern in den felsigen Steinboden gerammt. Ich hätt mir Schlimmeres vorgestellt. Zäune und Stacheldraht zum Beispiel, so wie man es von Grenzen gewohnt ist, die bewacht werden. Nichts davon. Es scheint wirklich so zu sein, wie Harvey trotz acht Gläsern Hammerdrinks geschildert hat. Keine Wachposten, zumindest keine, die man sehen kann. Es dämmert als ich das Stoppschild mit einem etwas flauen Gefühl im Magen überschreite. Ich setzte mich über das Gesetz hinweg, einfach so. Und? Nichts passiert. Kein Schuss, keine Sirene, kein Suchscheinwerfer, nothing. Und ich? Ich stehe nach einem anspruchsvollen Aufstieg nun völlig unbehelligt oben auf diesem massiven Bergrücken, der die Insel in zwei Teile trennt. Allein der Blick hinunter bleibt mir aufgrund der eingesetzten Dunkelheit verborgen. Was ist mit einem bequemen Bett für die Nacht? Und welche Hände werden meine strapazierten Muskeln massieren? Welch idiotischer Gedanke, einfach lächerlich. Ein vom Wind geschützter Felsvorsprung tut`s auch als Nachtlager. Wow, der Fels ist überraschend warm, I`m proudly surprised. Die Sonne hat ihn für mich aufgeheizt und die Wärme gespeichert. Müsst ich nicht zufrieden sein mit diesem Tag? Yes, bin ich, halleluja. Der Schlaf der Erschöpfung kommt über mich, ohne dass ich es mitkrieg.

      Nicht das Licht des Sonnenaufgangs weckt mich. Nein, wieder quält mich ein penetranter stechender Schmerz im Magen, begleitet von einem Muskelzittern in den Armen und in den Beinen. Die Anstrengung des Vortages? War es richtig, mich so heimlich aus dem Staub zu machen, auf die Bewirtung und die köstliche Versorgung von Harvey`s Frauen zu verzichten und auf den Weg zu machen? Wohin eigentlich? Trübe Gedanken beschäftigen mich im Moment des Zu-sich-Kommens, bis endlich die Sonne im Osten aufgeht und die vor mir liegende Landschaft ins Licht taucht, das meine trüben Gedanken vertreibt. Welch atemberaubender Blick sich mir dabei auf eine grandiose Inselwelt bietet, die für mich momentan einfach nur Niemandsland auf meiner Odyssee ins Unbekannte ist. Der entfernteste Punkt Festland ist ein beeindruckender Berg ganz im Osten, der die Sonne seitlich zu streifen scheint. Rechts davon ist eine Hügellandschaft zu erkennen, die fast bis zur Küste reicht. Unter mir breitet sich ein weites Tal aus. Die Farben in der gleißenden Morgensonne wechseln zwischen unterschiedlichen Grüntönen und hellen, sandfarbigen Flächen. Auch die Ebene ist durchsetzt mit imposanten Bergrücken, die einzeln in der Landschaft verstreut sind. Mein Blick zur linken Seite lässt mich einen Fluss erkennen, der die Berge hinunterschießt bis zum Meer. In der anderen Richtung fallen mir glänzende Flecken auf, die wie Silberpapier in der Sonne schimmern. Könnt ich meine prekäre Situation an dieser Stelle einfach ausblenden, dann wär ich in diesem Lebensmoment nichts anderes außer der Entdecker eines neuen Kontinentes, oder bin ich das etwa? Ich kann wahrlich nicht sagen, ob ich mich mitten im südamerikanischen Hochland oder in einer von einer einzigartigen Bergwelt eingerahmten afrikanischen Steppe befinde. Hätt ich jetzt nur einen winzigen Funken der Erinnerung an meinen eigenen Namen, dann würd ich diesem Land sogleich meinen Namenstempel verpassen. Privatland, no, definitiv kein Name für eine Insel mit einer paradiesischen Topographie wie dieser. Tief beeindruckt von dem was sich vor meinen Augen auftut und doch bedrückt angesichts der Tatsache meiner Erinnerungsleere stehe ich hier wie eine Statue auf dem wild gezackten Berggrat, den Harvey die Westrock-Mountains genannt hat.

      Mein Blick fällt noch einmal zurück auf die Palmenwälder und die Küste im Westen weit unter mir. Ich suche nach dieser von mir verdammten Mauer, aber ich kann sie von hier nicht sehen.

      Zu üppig ist die tropische Vegetation, die sich hinunter bis zur Westküste zieht, wo ich vor drei Tagen diese unfreiwillige Reise angetreten bin und von der ich jetzt ebenso wenig weiß wohin sie mich führen wird. Ist es paranoid, trotzdem in mehr oder weniger misslicher Lage zumindest auf meine körperliche Leistung stolz zu sein? Ich denk schon, dass ich die Ausgabe eines sportlichen menschlichen Exemplares sein muss, nachdem ich diesen Punkt hier oben auf dem Gipfel erreicht habe, der mir diesen wohl kaum übertreffbaren Fernblick zum exklusiven Geschenk macht. Noch einmal fällt mir ein, wie Harvey die Lage der Insel wörtlich beschrieben hat: „Da ist nichts in der Nähe, wo du mal kurz rüberschippern kannst, kein Festland, keine andere Insel weit und breit.“ Auch damit hatte Harvey also Recht, soweit mein Auge hier an diesem Aussichtspunkt in alpiner Höhe reicht, der Horizont ist das Meer, sonst nichts, nothing.

      Ein ausgetrocknetes Bachbett ist mein Weg nach unten ins Privatland. Neugier auf eine Zivilisation, von der ich genauso wenig weiß wie von mir, ist meine Nahrung. Fast leichtfüßig geht es sich auf dem deutlich flacheren Abstieg hinunter ins Tal. Kaum anstrengend, sondern eher ein Hinabgleiten in ein Tal, das darauf wartet, von einem Individuum wie mir erkundet zu werden. Nach einer Weile sind meine depressiven Gedanken ebenso verflogen wie diese Magenschmerzen und das Zittern in den Muskeln. Die Hoffnung, dass ich hier endlich die Wahrheit über mich herausfinden werde, steigt mit jedem Schritt und jedem Atemzug in der würzig nach Kiefern duftenden Bergluft. Mein Blick gleitet in dieses vor mir ausgebreitete Tal. Sind das Tiere? Aus der Entfernung sieht es so aus, als ob eine Herde mit mehreren Vierbeinern im Gras weidet, noch nicht deutlich genug erkennbar, ob es sich um Rinder, Schafe, oder Ziegen handelt? Mein Schritt wird schneller, mein Optimismus wächst und meine Neugier wird größer. Unerwartet trifft mich urplötzlich ein Schmerz wie ein Messerstich im linken Bein. Dabei bin ich nicht einmal gestolpert oder gestrauchelt. Nur die Unaufmerksamkeit im Bruchteil eines Augenblicks war ausreichend, um seitlich vom Stein abzurutschten. Mein Problembein schmerzt mit einem Mal höllisch. Warum habe ich beim Aufstieg nichts gespürt? Hat die Wirkung dieser Zaubersalbe plötzlich nachgelassen? Es wird nicht leichter, ich