Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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Augenblick später verdüstert sich der Himmel. Von Unruhe getrieben rasen die Violinen wild auf und ab. Die Landleute stieben auseinander, um einen Unterschlupf zu suchen. Ein, zwei, drei Paukenschläge, schon bricht die Hölle los. In den Violinen zucken die Blitze, in den Bratschen wütet der Wind, und als sich der Sturm immer mehr aufbläht, überzieht Anna ein kalter Schauer, drohen die entfesselten Streicher sie fortzureißen …

       Doch der große Arturo Menotti weiß die Elemente zu beherrschen. Mit seiner weißen Mähne und seinem funkelnden Blick haftet ihm etwas Göttliches an, und mit einer knappen Bewegung weist er die Streicher in ihre Schranken. Schon grollen sie davon, und der Himmel öffnet sich. Anna atmet auf. Das Gewitter ist vorüber. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen, bevor sie ihre Klarinette an den Mund führt, um ihr eine kleine Melodie zu entlocken. Ein Hirtengesang, der zum Himmel emporsteigt, so rein und klar. Vor ihrem inneren Auge sieht Anna die stillen Felder im Abendlicht, sieht die Landleute zögernd hinaustreten, den Blick auf den Himmel gerichtet. Als Nachtigall und Wachtel ihre Stimmen erheben, hält die Welt den Atem an. Bald gesellt sich Annas Kuckuck dazu. An diesem Abend ist er sorglos und froh, sein Ruf ist voll und kräftig. Für einen Augenblick gehört der Himmel den Holzinstrumenten, bevor das gesamte Orchester wieder mit einstimmt. Vereint zu einem letzten großen musikalischen Wunder. Mit weit ausholenden Gesten holt Arturo Menotti seine Kinder zu sich heran, hegt die einen, mahnt die anderen, sorgt für die nötige Balance, bis die ersten Sterne am Firmament aufleuchten und Beethovens Pastorale leise verklingt. Dann ist nur noch Stille. Ein Seufzen ergreift das Publikum, um kurz darauf zu einem gewaltigen Beben anzuschwellen, das die Wände des ehrwürdigen Konzertsaals erzittern lässt. Anna lächelt. Ein vollendeter Ausklang.

      Kapitel 1 Paris, April 1926

       Eine milde Brise bauschte den Vorhang nach innen und wies damit auf die honorable Madame Boneasse, die mit einem Gläschen Kräuterlikör und einer ledergebundenen Ausgabe von Das Bildnis des Dorian Gray den Abend einläutete. Im Haus war es ruhig. Zu hören waren nur das Rascheln der Buchseiten und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Die fernen Geräusche der Stadt, die gelegentlich durch das halb offene Fenster sickerten, vermochten den Frieden nicht zu stören, und so wurde das monotone Knarzen des Schaukelstuhls schon bald von einem sanften Schnarchen abgelöst.

       Schlag halb elf zerbarst das friedliche Bild unter lautem Hupen, gefolgt von einem infernalen Krachen und Knattern. Madame Boneasse fuhr erschrocken hoch, was zur Folge hatte, dass Oscar Wilde samt Lesebrille von ihren Knien rutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete.

       „Wie? Was?“

       Verwirrt blickte sich die alte Frau um, bevor sie sich umständlich aus dem Schaukelstuhl schälte und zum kleinen Spiegel stürzte, der neben der Zimmertür hing. Um ein Haar wäre sie auf ihre Lesebrille getreten.

       „Ach, du meine Güte“, murmelte sie und zupfte sich die grauen Strähnen zurecht.

       Erneut drangen diese schrecklichen Geräusche ins Zimmer, begleitet von einem stechenden Gestank, der Madame Boneasse veranlasste, unverzüglich das Fenster samt Läden zu schließen. Geschäftig strich sie über ihr Baumwollkleid, bevor sie etwas Eau de Cologne in ihre Handflächen tröpfelte und sich damit über Nacken und Stirn fuhr. Noch schnell einen Schluck Limettensaft, in der Hoffnung, dieser würde den Geruch des Kräuterlikörs übertönen, dann eilte sie nach draußen. Ihr Zimmer grenzte direkt ans Vestibül.

       „Jeanne!“, rief sie energisch. „Jeanne!“

       Ein junges Mädchen mit weißer Schürze stürzte um die Ecke.

       „Ja, Madame?“

       „Die Herrschaften sind soeben vorgefahren. Hast du die B… das Bett vorgewärmt?“

       An den Gedanken, dass Monsieur und Madame Milhaud im selben Zimmer schliefen, konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.

       „Aber es ist so warm draußen.“

       „Wir haben erst April, du dumme Gans! Im April werden die Betten immer vorgewärmt. Sieh zu, dass du heiße Backsteine heranschaffst! Du hast doch welche auf Vorrat?“

       Das Mädchen nickte eifrig.

       „Gut, gut. Die Herrschaften werden vermutlich nicht gleich zu Bett gehen, sondern den Abend in der Bibliothek ausklingen lassen. Also los, beeil dich!“

       Das Dienstmädchen ließ zwar ein Schnauben hören, doch weil es auf dem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal erklomm, ließ es ihm Madame Boneasse durchgehen. Sie strich sich noch einmal übers Haar. Keine Minute zu früh. Schon erschallte hinter der großen Eingangstür ein lautes Lachen, und man hörte, wie jemand mit einem Schlüsselbund hantierte. Madame Boneasse straffte sich und öffnete die Tür.

       „Meine Gute“, dröhnte ihr Monsieur Milhauds angenehmer Bass entgegen. „Sie haben mich zu Tode erschreckt!“

       Der Hausherr war ein korpulenter Mann in den Vierzigern mit einem mächtigen Schnauzer und einem rötlichen Gesicht, das von seiner Vorliebe für gutes Essen und übermäßigen Weingenuss zeugte. Ungeachtet seiner Körperfülle saß sein Abendanzug tadellos. Den Flanellmantel hatte er lässig über den Arm gehängt. Die Frau an seiner Seite war noch sehr jung, eine Schönheit mit aschblonden Locken und großen hellen Augen, die Lippen scharlachrot geschminkt. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus blauem Chiffon. Der Gipfel der Sittenlosigkeit war in Madame Boneasses Augen die lange Perlenkette, die die Nacktheit des Rückens betonte.

       „Hier!“, rief Monsieur Milhaud und warf seiner Haushälterin Mantel und Hut zu, die sie gerade noch mit Mühe auffing.

       „Also wirklich, Maurice!“ Véronique Milhaud warf ihrem Mann einen sorgenvollen Blick zu. „Was wird Madame Boneasse von uns denken?“

       „Nur Gutes, meine Liebe, nur Gutes. Sie mag ein strenges Gesicht aufsetzen, aber in Wirklichkeit hat sie ein Herz aus Gold.“ Maurice Milhaud zwickte der alten Frau in die Wange, was sie prompt erröten ließ. „Nicht wahr, Sie Engel?“

       „Aber, Monsieur …“

       „Schon gut.“ Er lachte freundlich. „Wir gehen jetzt in die Bibliothek und genehmigen uns noch einen kleinen Schlummertrunk.“

       „Wollen wir nicht lieber gleich zu Bett gehen, Liebling?“, entgegnete seine Frau. „Der Abend war überaus anstrengend.“

       Monsieur Milhaud hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. „Ich bin geschockt, meine Liebe. Muss ich mir Sorgen machen?“

       Angesichts seines komischen Gesichtsausdrucks entfuhr ihr ein kleines Lachen. „Mitnichten. Aber lass mich vorher die Schuhe ausziehen, ja? Sie bringen mich noch um.“

       Nur zu! Du weißt, ich liebe deine kleinen Zehen“, antwortete Monsieur Milhaud gut gelaunt, bevor er sich wieder Madame Boneasse zuwandte. „Machen Sie einfach da weiter, wo Sie gerade aufgehört haben, meine Gute! Was immer es war.“ Diesmal klang sein Tonfall eine Spur unanständig. „Wir kommen schon allein zurecht.“

       „Ganz wie Sie wünschen.“ Insgeheim war die Haushälterin froh, nicht mehr gebraucht zu werden. In ihrem Alter ertrug sie diese Art von Übermut nicht mehr. „Gute Nacht, Madame. Gute Nacht, Monsieur.“

       „Gute Nacht“, erklang es unisono zurück.

       Als das glamouröse Paar hinter der Holztür der Bibliothek