Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


Скачать книгу

dick aufgetragen, Emile?“

       „Aber nein.“ Der andere schmunzelte. „Ich finde, es klang sehr glaubwürdig.“

       Vincent lachte. „Du bist ein verdammter Romantiker.“

       Daraufhin fielen sich die beiden Männer in die Arme, während Magali den Kopf schüttelte.

       „Dass ihr immer so übertreiben müsst! An euch sind echte Possenreißer verloren gegangen, wisst ihr das?“, sagte sie und quittierte den vorwurfsvollen Blick der zwei Freunde, die im selben Viertel aufgewachsen waren, mit einem amüsierten Lächeln.

       Die drei befanden sich im Pavillon eines kleinen Parks unweit der Polizeistation, wo sich die Laubbäume in ihrem ersten Grün präsentierten. Eine vornehme Zurückhaltung, die sie zur Freude der Anwohner in Bälde ablegen würden.

       „Wenigstens habt ihr mich mit eurer kleinen Vorstellung von meinem Unwohlsein abgelenkt“, fügte Magali hinzu.

       „Zu viele Menschen?“, mutmaßte Emile, der sie gut kannte.

       Sie nickte. Den Mann in der Polizeistation erwähnte sie nicht. Vermutlich war er nur Einbildung gewesen.

       Nachdem Emile ein paar aufmunternde Worte gemurmelt hatte, räusperte er sich. „Also, was kann ich für euch tun?“

       „Es geht um die Methusalem-Seuche“, begann Vincent.

       Der Polizist stieß einen tiefen Seufzer aus.

       „Ja, ich weiß“, beeilte sich Vincent zu sagen. „Aber diese Toten sind schlecht fürs Geschäft, Emile. Ich will wissen, wie weit euer Kommissar mit seinen Ermittlungen ist. Dreizehn Opfer und noch immer keine Spur?“

       Der Angesprochene trat einen Schritt vor. „Unter uns gesagt: Ich glaube, dass Fournier einen Verdacht hat“, antwortete er leise. „In den letzten Tagen hat er sehr geheimnisvoll getan.“

       „Was für einen Verdacht?“

       „Keine Ahnung. Er hält sich bedeckt. Ich nehme an, er sammelt noch die entsprechenden Beweise. Die Todesfälle sorgen für viel Wirbel, wisst ihr, vor allem bei den einflussreichen Leuten.“ Emiles Stimme war inzwischen nur noch ein Flüstern. „Der Polizeipräfekt ist außer sich. Fournier darf keinen Fehler machen und den Falschen beschuldigen.“

       Hoffentlich findet er bald seine Beweise. Sonst müssen wir das Nuits Folles schließen.“ Vincent ballte die Fäuste. „Ich will nicht, dass es so weit kommt!“

       „Wird es schon nicht“, murmelte Emile, doch in Magalis Ohren klangen die Worte wenig überzeugend.

       Diese Seuche ist grauenvoll. Sie erinnert mich an Abraham Stokers Dracula “, warf sie ein und unterdrückte ein Schaudern. „Das letzte Opfer war noch so jung.“

       Vincent warf ihr einen schiefen Blick zu. „Sag bloß, du liest diesen Schund?“

       „Schund?“, erwiderte sie. „Das sagt ausgerechnet jemand, der Jules Verne verehrt. Einen Märchenerzähler!“

       „Einen Visionär!“, warfen Emile und Vincent gleichzeitig ein.

       Magali prustete verächtlich. „Eine Reise zum Mond? Ich bitte euch.“

       „Also, das ist ja wohl …“, begann Vincent, doch er sollte seinen Satz niemals beenden, denn in diesem Moment erklangen einige Querstraßen weiter schrille Trillerpfeifen, dazwischen waren Rufe zu hören.

       „Ich glaube, es kommt aus der Richtung der Polizeistation“, sagte Magali mit einem unguten Gefühl.

       „Vielleicht sind die feinen Herrschaften übereinander hergefallen, dann müsste ich sie alle einsperren. Das wäre doch mal ein Spaß!“ Emile lachte, ein Laut, der aus den Tiefen seines Bauchs kam. „Ich muss zurück. Tut mir leid, Leute.“

       „Pflicht ist Pflicht, Brigadier!“ Vincent bedachte seinen alten Freund mit einem schneidigen Salut, was ihm prompt einen nicht ernst gemeinten Boxhieb einbrachte.

       Magali, es war mir wie immer ein Vergnügen.“ Emile tippte an seine Mütze. „Bis bald, ihr beiden!“ Sprachs und verließ den Park im Laufschritt, wobei sein Cape emsig hinter ihm her flatterte.

       „Ich verstehe nicht, warum er nicht schon längst Brigadier en Chef ist“, sagte Magali, während sie ihm versonnen nachblickte.

       Er hat keinen Ehrgeiz. Hat er noch nie gehabt. Seine Orchideenzucht geht ihm über alles.“

       „Ein Jammer“, erwiderte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Jules Verne … pfff.“

       „Abraham Stoker“, schnaubte Vincent zurück.

       Besitzergreifend legte er ihre linke Hand auf seinen rechten Arm, dann geleitete er sie zum Bugatti, der zwei Straßen entfernt geparkt war.

      Kapitel 3 Warschau, September 1919

       Annas Bestimmung nahm an einem nasskalten Herbsttag im Warschau des Jahres 1919 ihren Anfang.

       Kaum war der Streifenpolizist hinter der nächsten Ecke verschwunden, lösten sich zwei Gestalten aus dem Schatten des Hauseingangs . Ein Mann und ein kleines Mädchen. Er trug einen Frack, der schon bessere Tage gesehen hatte, sie ein geblümtes Kleid mit weißer Knopfleiste. Sie hatten schwarze Instrumentenkoffer bei sich und postierten sich der Akustik wegen unter dem gewölbten Eingang eines Kaufhauses. Nachdem die beiden ihre Musikinstrumente hervorgekramt hatten – der Mann spielte Violine, das Mädchen Klarinette – machten sie da weiter, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hatten. Mit dem zweiten Satz aus Mozarts Klarinettenkonzert. Wie jeden Tag waren auf der Marszatkowska, einer der Prachtstraßen Warschaus, viele Menschen unterwegs, und im Nu bildete sich ein Halbkreis um die beiden Musiker. Selbst einem wenig geschulten Zuhörer musste auffallen, dass der Mann mittelmäßig spielte, während die Kleine eine Zauberin auf der Klarinette war. Auch wenn ihr Spiel nicht frei von Fehlern war, spürte man in dem schmächtigen Körper eine Kraft, die über kurz oder lang zu etwas Großem, Unglaublichem erblühen würde. Ihr Adagio stieß in seelische Tiefen vor, trieb die verschütteten Träume der Zuhörer an die Oberfläche, wo sie sich als Tränen offenbarten. Die Marszatkowska löste sich auf: die knochigen Bäume, der Asphalt, selbst die rumpelnde Tram ... Die Welt hielt den Atem an. Bis das Duo ein heiteres Stück anstimmte, das Gioacchino Rossini mit achtzehn Jahren komponiert hatte und ein Lächeln auf die Gesichter rundum zauberte. Obgleich von einfacher Natur schien das Werk für den Mann und das Kind eine besondere Bedeutung zu haben, denn sie warfen sich beim Spielen liebevolle Blicke zu, und selbst die Sonne riskierte einen kurzen Blick. Als der letzte Ton verhallte, war zunächst nur ein kollektives Seufzen zu hören, danach brach ein Beifallssturm los, der in heiteres Klimpern mündete. Die Münzen flogen nur so in die offenen Instrumentenkoffer! Nicht wenige blieben noch eine Weile stehen, in der Hoffnung, es gäbe noch eine Zugabe, doch schon bald zerstreuten sich die Menschen in alle Richtungen. Die einen überquerten die Straße, die anderen rannten zur Tram, dritte ließen sich von den reich bestückten Schaufenstern der Kaufhäuser ins Innere locken. Die Welt hatte sie wieder.

       Nur ein einzelner Herr