Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


Скачать книгу

Hut hervor.

       Der Straßenmusikant war gerade dabei, die Instrumente wegzupacken, das Mädchen half ihm, als der Herr auf sie zutrat. Erschrocken blickte der Mann auf. Offenbar befürchtete er, es könnte sich um einen Gesetzeshüter handeln, oder sogar Schlimmeres.

       Der Herr lüftete den Hut. Zum Vorschein kam ein hageres Gesicht mit tiefen Mundfalten und klaren blauen Augen.

       „Vergeben Sie mir, Signore. Ich wollte Sie nicht erschrecken“, beeilte er sich zu sagen. „Mein Name ist Arturo Menotti. Das eben war eine hochkarätige Darbietung. Wem verdanke ich dieses unerwartete Vergnügen?“ Er sprach Polnisch mit einem melodiösen italienischen Akzent.

       „Ich heiße Andrej.“ Der Musiker zog es vor, seinen Nachnamen nicht zu nennen. „Und das hier ist meine Tochter … Anna.“

       „Erstaunlich“, murmelte Signore Menotti und blickte nunmehr auf das Kind, das sich hinter seinem Vater versteckte. „Wo hat sie so zu spielen gelernt?“

       „Ich habe es ihr beigebracht“, antwortete der Musiker nicht ohne Stolz. „Vor dem Krieg war ich Mitglied eines Kammerorchesters.“

       „Sie hat wohl Ihr Talent geerbt“, sagte Signore Menotti höflich.

       Der Musiker lächelte. „Nun, es ist wohl mehr als das. Sie ist gerade mal elf und hat mich bereits überflügelt.“

       „Wirklich ganz erstaunlich.“ Signore Menotti räusperte sich. „Sie müssen wissen, ich leite ein großes Symphonieorchester, und zurzeit gastieren wir in Ihrer schönen Stadt.“

       Bei diesen Worten wurde der Musiker eine Spur blasser, sagte aber nichts.

       „Ich bin stets auf der Suche nach Talenten. Außergewöhnlichen Talenten“, fügte der Italiener eindringlich hinzu. „Und Ihre Tochter ist es zweifellos.“

       „Und?“ Es klang lauernd.

       „Geben Sie sie in meine Obhut, und ich biete ihr nicht nur eine erstklassige Ausbildung, sondern auch die Chance, eine weltberühmte Künstlerin zu werden.“

       „Sie ist stumm“, erwiderte der Musiker.

       „Aber nicht taub, oder?“ Signore Menotti lächelte mild.

       „Nein, natürlich nicht“, sagte der Musiker. „Ich kenne viele erfolgreiche Vertreter unserer Zunft, doch Frauen waren niemals darunter.“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Was für ein Orchester soll das sein?“

       Arturo Menotti kramte einen Handzettel aus seiner Manteltasche hervor. „Hier!“, sagte er und drückte seinem Gegenüber das Stück Papier in die Hand. „Ich setze Sie und Ihre Tochter auf die Gästeliste. Es wäre mir eine außerordentliche Freude, Sie dort zu sehen. Kommen Sie nach dem Konzert hinter die Bühne, und wir reden weiter.“

       Der Italiener lüftete seinen Hut zum Abschied, dann wandte er sich ab. Seine große Gestalt war bald in der Menge verschwunden, doch hallte das ΄Tok Tok΄ seines Spazierstocks noch lange nach.

       Voller Argwohn starrte der Musiker auf den Handzettel: Heute Abend im Großen Theater! Die weltberühmte Philharmonie der Zwei Welten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

       Anna, die aus seinem Schatten getreten war, fixierte das Blatt Papier mit großen Augen. Was ist das, Tata?, wollte sie gestenreich wissen.

       „Nichts“, antwortete dieser und zerknüllte den Handzettel. „Gar nichts.“

       Andrej Kaminski focht einen inneren Kampf aus. Nichts liebte er so sehr wie seine Tochter, die er seit dem viel zu frühen Tod seiner Frau allein großzog. Obwohl sie niemals hatten hungern müssen, was einzig Annas außergewöhnlichem Talent zu verdanken war, lagen fünf lange Jahre der Trauer und der Entbehrungen hinter ihnen. Seine zahlreichen Versuche, eine feste Anstellung als Musiker zu finden, waren bisher daran gescheitert, dass er entweder zu gut, zu schlecht oder zu alt war. Also hatten sie die Straße gewählt. Nicht die schlechteste Entscheidung, auch wenn sich Andrej schmerzlich bewusst war, dass es keine langfristige Lösung darstellte. Weder für seine Tochter noch für ihn, zumal er nicht jünger wurde und die Straße bereits ihre Spuren hinterlassen hatte. Seine rheumatischen Beschwerden häuften sich, und schon seit mehreren Wochen litt er an einer Bronchitis, die keine Anstalten machte, ihn wieder vom Haken zu lassen.

       Mit zitternder Hand zog er den zusammengeknüllten Zettel aus seiner Hosentasche, legte ihn auf den Küchentisch und strich ihn glatt.

       Heute Abend im Großen Theater. Die weltberühmte Philharmonie der Zwei Welten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

       Ein einfaches Blatt Papier. Verlockend. Tückisch.

       Die Zeit war reif, Anna auf eine ordentliche Schule zu schicken, zumal er sich außerstande sah, sie weiter zu fördern. Nicht nur musikalisch, sondern auch wegen ihrer Versehrtheit – wie er dieses Wort hasste – stieß er immer häufiger an seine Grenzen. Seine kleine Tochter verdiente eine Zukunft. So betrachtet war Menottis Angebot ein Geschenk des Himmels, nur dass er dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen. Anna war der einzige Lichtblick in seinem Leben, seine Existenzberechtigung. Wie könnte er sie da einem Fremden überlassen?

       Während ein Muster aus Schatten und Sonnenstrahlen über den Tisch wanderte, starrte er auf den Zettel und hörte erst damit auf, nachdem die Wörter von den Schatten vollends verschluckt worden waren. Er fällte seine Entscheidung zwei Stunden vor Konzertbeginn. Was hatte er schon zu verlieren? Außerdem war der Gedanke verlockend, nach Jahren der Absenz wieder einen Konzertsaal von innen zu sehen. Also badete er die kleine Anna, schrubbte ihre Haut, bis diese ganz rosig war, zog ihr ihr hübschestes Kleid an, das mit dem Spitzenkrägelchen und den Puffärmeln, bürstete ihr Haar und flocht es zu einem langen Zopf. Inzwischen hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Sollte es zu Verhandlungen kommen, würde er darauf bestehen, ebenfalls engagiert zu werden. Entweder Anna und er würden gemeinsam im Orchester spielen oder keiner von ihnen!

       Die Fassadenbeleuchtung des Großen Theaters tauchte die Pelze und edlen Roben in strahlenden Glanz, und die Menschen stießen bewundernde Rufe aus. Ob der Pracht des Gebäudes oder ihrer eigenen Erscheinung wegen hätte Andrej nicht sagen können. Anna und er gaben ein vergleichsweise schäbiges Bild ab, was sein kleines Mädchen zum Glück nicht bemerkte. Es war ihr erster Konzertbesuch, und die Aufregung war ihr deutlich anzusehen. Mal trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen, mal balancierte sie auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Von Gefühlen überwältigt beugte sich Andrej zu ihr hinunter und küsste zärtlich ihren Scheitel. Anna dankte es ihm mit ihrem schönsten Lächeln.

       Vor dem Kassenhäuschen hatte sich eine lange Schlange gebildet, doch kaum hatten sich Andrej und Anna ans Ende gestellt, als ein livrierter Platzanweiser auf sie zukam und sie aufforderte, ihm zu folgen. Gesenkten Hauptes und mit errötenden Wangen eilten sie an den wartenden Menschen vorbei und betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang. Unmittelbar fanden sie sich in einem Menschenstrom wieder, der sich träge durchs Foyer Richtung Saal schob. Der Platzanweiser lotste sie geschickt hindurch und wich nicht von ihrer Seite, bis sie in einer der vorderen Reihen Platz genommen hatten. Anschließend verabschiedete er sich mit einem dünnen Lächeln.

       Andrej atmete tief ein. Er hatte den verheißungsvollen Duft eines Konzertsaals so lange entbehren müssen. Den Kopf in den Nacken gelegt betrachtete er die kunstvoll gearbeitete