Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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kurzen Handbewegung forderte er Gustave auf, sich zu ihm zu gesellen, was dieser auch tat. Die wortlose Einladung, sich ebenfalls zu bedienen, lehnte er jedoch ab.

       Nachdem Vincent zwei Croissants vertilgt hatte, sah er auf.

       „Also, was ist?“

       Gustave zeigte auf die Zeitung, die auf dem Frühstückstablett lag. Als Vincent die Titelseite sah, stieß er einen lauten Fluch aus.

       Sag‘ ich doch“, murmelte Gustave und rieb seine schiefe Nase. Das tat er immer, wenn er beunruhigt war.

       Auf dem Titelblatt des Petit Journal Illustré prangte eine rötlich braune Zeichnung. Zu sehen war ein schreiender Mann in einem Himmelbett, neben ihm lag eine skelettierte Frau im hauchzarten Nachthemd. Rechts im Bild spähten einige Dienstboten durch die halb offene Schlafzimmertür, auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck des Grauens. Vincent griff nach der Zeitung, schlug sie auf und fluchte einmal mehr. Da stand es. Gleich auf der zweiten Seite zwischen der Rubrik „Ihr Arzt empfiehlt“ und Tipps, wie man schnell zu Reichtum gelangte: Die Methusalem-Seuche forderte ihr dreizehntes Opfer. Sein Blick humpelte schwerfällig über den Artikel, saugte sich mehrmals an kniffligen Wörtern fest, um sich nach einer gefühlten Ewigkeit enttäuscht abzuwenden. In der Zeitung stand nichts, was Vincent nicht bereits wusste. Wie in den zwölf Fällen davor war jemand innerhalb weniger Stunden vergreist und gestorben. Ein grausames Ende, das diesmal eine junge Frau namens Véronique Milhaud ereilt hatte. Die Ärzte und Experten, die aus Deutschland, der Schweiz und weiß Gott woher angereist waren, standen vor einem Rätsel. In einer Stellungnahme erklärte der ermittelnde Kommissar, ein gewisser Bernard Fournier, dass bei dem neuesten Opfer weder Spuren von Gift noch Beweise für äußere Gewalteinwirkung gefunden worden waren. Dennoch wäre der Ehemann, wie in solchen Fällen üblich, der Hauptverdächtige, und natürlich würde man ihn befragen. Inoffiziellen Quellen der Polizei zufolge machte man sich dennoch keine Illusionen, was das Ergebnis der Vernehmung betraf.

       Die Methusalem-Seuche, im Übrigen eine Namensschöpfung der Zeitungen, war vor zwei Monaten wie ein Fluch über Paris hereingebrochen. Dass die Opfer der illustren Gesellschaft angehörten, bereitete Vincent Magenschmerzen, denn die Reichen und Schönen waren es, die den Großteil seiner Klientel ausmachten. Seit Bekanntwerden der Todesfälle waren die Einnahmen dramatisch eingebrochen. Obwohl Mistinguett in seinem Klub auftrat, neben Josephine Baker die populärste Sängerin in Paris, waren die Tische nur noch spärlich besetzt. Statt auszugehen, verkrochen sich die Menschen im vermeintlichen Schutz ihrer eigenen vier Wände. Zu allem Überfluss schürten reaktionäre Kräfte das Gerücht, die Seuche sei durch diese neuartige „Negermusik“ aus Amerika ausgelöst worden.

       Vincent knallte die Zeitung auf den Tisch. „Gustave, das Telefon!“

       Der Angesprochene sprang auf, holte den schwarzen Apparat, der sich auf dem Nachttisch befand, und stellte ihn auf den Servierwagen.

       „Hier, Patron.“

       „Danke.“ Vincent nahm den Hörer ab. „Guten Tag, Mademoiselle. Geben Sie mir die Polizeistation des 4. Arrondissements ... Ja, ich warte.“

       Ungeduldig klopfte er mit dem Fuß auf den Boden, dann verharrte er mitten in der Bewegung. „Wie meinen Sie das, die Leitung ist belegt? … Aha … Ja … Nein, warten Sie! Bitte verbinden Sie mich mit MON-335 … Ja, danke.“ Der Fuß nahm sein rhythmisches Klopfen erneut auf, um gleich wieder innezuhalten. „Magali? Ich bin’s, Vincent … Was? Nein! Du musst mich zur Polizeistation von Notre-Dame fahren … Nein, nein! Ich will nur mit jemandem sprechen … Gustave muss heute Vormittag zum Arzt. Seine alte Kriegsverletzung macht ihm wieder zu schaffen … Richte ich ihm aus. Also, wie sieht’s aus? … Die Metro? Ich habe einen Peugeot 177 in der Garage stehen!“ Das schwarzrote Automobil, das eine Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h erreichte, war Vincents ganzer Stolz, auch wenn er es nicht fahren konnte. „Ach komm, du weißt doch, dass ich einen Höllenrespekt davor habe. Du dagegen bist ein echter Haudegen am Steuer! ... Es liegt mir fern, dir Honig ums Maul zu schmieren … Kolossal! Du hast was gut bei mir … Deinen Bugatti? Muss das sein? … Schon gut! Wenn du unbedingt darauf bestehst, nehmen wir deinen Bugatti.“ Vincent rollte entnervt mit den Augen. „Wann kannst du frühestens im Klub sein?“

       Keine vierzig Minuten später stürmte eine junge Frau durch den zweiflügeligen Eingang des Nuits Folles und ließ den Blick prüfend über den Saal wandern. Noch harrten die Stühle umgedreht auf den Tischen, Bühne und Tanzfläche waren verwaist, die blank polierten Spiegel ohne Anbeter. Als sie Vincent mit dem alten Portier, den alle nur Papi nannten, an der Bar entdeckte, winkte sie fröhlich. Magali war eine schicke junge Frau von achtundzwanzig Jahren, die ihren rostroten Schopf in einem kurzen Bob trug. Die schweren Lider unter den schwungvoll gezeichneten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen melancholischen Ausdruck, auch wenn der Blick aus ihren hellgrünen Augen meist unverschämt direkt war. Sie war von knabenhaftem Wuchs und trug eine graue Hose, dazu ein weißes Männerhemd und eine dunkelrote Jacke mit Schalkragen und Blume im Knopfloch. Magali war das, was man eine Garçonne nannte. Frauen, die ihre Emanzipation durch einen männlichen Kleidungsstil zum Ausdruck brachten.

       „Vincent, Schatz! Du siehst müde aus.“

       Willst du, dass die uns gleich dabehalten?“, schimpfte dieser statt einer Begrüßung und zeigte auf ihre Hose.

       Magali schnaubte. „Was bist du nur für ein Spießer!“ Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. „Sieht doch gut aus.“ Dann drückte sie dem alten Portier einen Kuss auf die Wange. „Guten Tag, Papi!“

       „Mademoiselle“, murmelte dieser verlegen.

       „Hör auf, ihn durcheinanderzubringen“, maulte Vincent.

       Doch Magali lachte nur. „Du bist heute wieder blendender Laune, wie ich sehe!“

       Vincent und sie waren seit vielen Jahren befreundet. Kennengelernt hatten sie sich an einem warmen Sommertag im Park der Tuilerien. Zu einer Zeit, als Magali noch Marie Le Bellec hieß, Wonneproppen in Matrosenanzügen ihre Spielreifen manierlich den Weg entlangtrieben und elegante Herren hutlüftend die Damenwelt zum Erröten brachten. Mittendrin dann dieser junge Mann mit der Ballonmütze und dem mürrischen Charme, der verwegen genug war, den Spaziergängern trotz gesetzlichen Verbots Limonade zu verkaufen. Marie, von so viel Verruchtheit fasziniert, sprach den Fremden an und verliebte sich bereits in den ersten Minuten unsterblich. Was unausweichlich war, hatte sie doch nie zuvor einen Rebell kennengelernt. Er, der die Schwelle zum Erwachsensein bereits überschritten hatte, war ihren kindlichen Avancen mit Gleichmut begegnet. Heute lachten sie beide darüber.

       Marie Le Bellec stammte ursprünglich aus Brest und war das Ergebnis einer außerehelichen Liaison. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in die Obhut von Benediktinerinnen gegeben, während sich ihre fromme, von Schuld zerfressene Mutter nach Afrika begab, um das Wort Gottes zu verbreiten. Wo sie recht bald an Malaria erkrankte und verstarb. Von ihrem Vater wusste Marie nur, dass er Leutnant bei der Marine gewesen war. Mit fünfzehn Jahren, kurz bevor sie die Weihe empfangen sollte, lief sie weg und landete in Paris. Sie hatte Glück. Nach einigen unliebsamen Begegnungen mit der Polizei wegen Herumstreunens fand sie Unterschlupf bei einem älteren jüdischen Ehepaar, das sich ihrer annahm und sie bei einem befreundeten Tuchhändler in die Lehre schickte.

       Eines Abends, als sie mit Vincent am Ufer der Seine saß und einem hell erleuchteten Kahn hinterherblickte, der den Fluss mit Geschnatter und Gelächter überzog, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit hinter düsteren Klostermauern. Von den nicht enden wollenden Gebeten zu einem ungerechten Gott, vom Tragen der Unterhose auf dem Kopf als Strafe fürs Bettnässen und vom leisen Weinen der Jüngeren