Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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die Wände perlte, brachte sie kurz aus dem Tritt. Mürrisch schüttelte sie den Kopf. Wie sich doch die Zeiten geändert hatten!

       „Madame Boneasse!“

       Schlaftrunken drückte die alte Frau den Kopf tiefer ins Kissen.

       „Wachen Sie auf, Madame Boneasse!“

       „Was ist?“

       „Ich glaube, mit den Herrschaften stimmt etwas nicht.“

       Die Haushälterin stützte sich auf und kniff die Augen zusammen. Jeanne stand im Nachthemd an ihrem Bett, eine Kerze in der Hand. Ihr Gesicht wirkte geisterhaft, die Panik in ihrer Stimme jagte der alten Frau einen kalten Schauer über den Rücken.

       „Hör auf, mir Angst zu machen, Kind!“, maulte sie. „Was ist los?“

       „Ich weiß es nicht genau“. Das Dienstmädchen zitterte wie Espenlaub. „Ich glaube, ich habe Madame um Hilfe rufen hören.“

       Jetzt war die Haushälterin hellwach. „Warum hast du nicht nachgesehen?“

       „Ich habe mich nicht getraut“, kam es kleinlaut zurück.

       Was hattest du überhaupt außerhalb deiner Kammer zu suchen?“

       „Ich konnte nicht schlafen und bin an der Treppe auf und ab gegangen.“

       Madame Boneasse seufzte. Viel wahrscheinlicher war es, dass sich Jeanne in die Bibliothek hatte schleichen wollen, um aus der Bar etwas Cognac zu stibitzen, und währenddessen etwas gehört hatte.

       „Und du bist dir sicher, dass es kein Traum war?“

       Ganz sicher, Madame.“

       „In Ordnung.“ Schwerfällig hievte sich die Haushälterin aus dem Bett, suchte mit den nackten Füßen nach ihren Pantoffeln, dann stand sie auf.

       „Mach das Ding aus“, sagte sie und zeigte auf die Kerze. „Wir haben Elektrizität.“

       „Ja, Madame.“

       „Bleib hier. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.“

       „Ja, Madame.“

       Beim Hinausgehen streifte sich die alte Frau einen Morgenmantel über, dann durchquerte sie das Vestibül und ging schnaufend die Treppe hoch. Sie hätte es niemals laut ausgesprochen, doch für einen dieser modischen Aufzüge hätte sie in dem Moment ihren rechten Arm hergegeben. Das Schlafzimmer der Herrschaften befand sich rechts am Ende des Gangs. Leise trat sie auf die Tür zu und lauschte. Abgesehen von ihrem eigenen Keuchen war es totenstill. Vielleicht hat sich Jeanne alles nur eingebildet, dachte sie, und wartete einen Augenblick. Immer noch nichts. Gerade als sie sich abwenden wollte, hörte sie ein Wimmern. Im höchsten Maße beunruhigt beugte sie sich nach vorn. Erneutes Wimmern. Sie holte tief Luft und klopfte an. Das Geräusch hinter der Tür brach jäh ab.

       „Madame?“, fragte sie leise. „Alles in Ordnung?“

       Statt einer Antwort setzte das Wimmern wieder ein, diesmal lauter, und eine eisige Faust griff nach Madame Boneasses Herz. Monsieur Milhaud würde seiner jungen Frau doch nichts antun? Sie diente ihm seit siebzehn Jahren und hatte noch nie erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen Menschen erhoben hätte. Andererseits gab es immer ein erstes Mal.

       „Kann ich hereinkommen, Madame?“

       „Ach, meine Gute …“

       Vor Entsetzen fasste sich die Haushälterin an die Kehle. Die Stimme auf der anderen Seite gehörte nicht Madame, sondern Monsieur Milhaud! Eine gefühlte Ewigkeit stand die alte Frau vor der Tür, doch letztlich gewann ihr Pflichtbewusstsein die Oberhand, und sie drückte die Klinke hinunter. Im Zimmer brannte eine einzelne Nachttischlampe, deren mattes Licht alles jenseits des Bettes schemenhaft erscheinen ließ. Dennoch kam Madame Boneasse nicht umhin zu bemerken, dass sich der Raum in Unordnung befand. Kleider lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden, die zerknüllte Tagesdecke lugte unterm Bett hervor, und Madames Spitzenunterwäsche zierte in unschicklicher Weise die dickbäuchige Mingvase neben der Tür. In der Luft lag etwas, das nicht zu diesem fröhlichen Durcheinander passte. Madame Boneasse konnte nicht sagen, was es war, aber es drohte, ihr die Luft abzuschnüren.

       „Ich knipse die Stehlampe an“, murmelte sie.

       „Nein.“ Die Stimme, die aus der Richtung des Bettes kam, klang brüchig. „Bitte nicht.“

       Die Haushälterin machte sich aufs Schlimmste gefasst, als sie dem Klang der Stimme folgte. Im letzten Krieg hatte sie ungeachtet ihres Alters in einem Lazarett gedient und mehr als einmal der Hölle ins menschliche Antlitz geschaut. Der Anblick jedoch, der sich ihr bot, kaum, dass sie am Fuß des Bettes angekommen war, hatte nichts mit Verätzungen, Schuss- oder Brandwunden zu tun.

       „Jesus, Maria und Josef!“ Die alte Frau bekreuzigte sich, während ihr Körper Halt am Bettpfosten suchte. „Was ist passiert?“

       „Ich weiß es nicht.“ Der sonore Bass von Monsieur Milhaud klang hohl. Beinahe geisterhaft.

       Madame Boneasse holte tief Luft, bevor sie nähertrat und sich über ihre Herrin beugte. Ein Lufthauch traf ihre Wange. Der runzlige Mund unter ihr bewegte sich, offenbar versuchte sie etwas zu sagen.

       „Monsieur, sie spricht.“

       Maurice Milhauds Augen schwammen in Tränen. „Ich weiß, aber ich kann sie nicht verstehen.“ Er schluchzte. „Ich kann es nicht.“

       Die alte Frau richtete sich wieder auf. „Ich werde den Doktor anrufen, und in der Zwischenzeit quartieren wir Sie ...“

       „Ich verlasse meine Frau nicht.“

       „Aber Monsieur!“ Die Haushälterin rang hilflos mit den Händen. „Vielleicht ist es ansteckend.“

       „Nein!“ Der Ton in der Stimme duldete keinen Widerspruch. Ein letztes Aufbäumen.

       „Wie Sie meinen“, stammelte die honorable Madame Boneasse, bevor sie endgültig die Fassung verlor und aus dem Zimmer stürzte, als wäre der Teufel hinter ihr her.

       Als der Arzt eine Stunde später eintraf, war Véronique Milhaud bereits tot. Sie war an Altersschwäche gestorben – im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren.

      Kapitel 2 Paris, April 1926

       „Das wird Ihnen nicht gefallen, Patron!“

       Vincent Lefèvre trat aus dem Badezimmer. „Was wird mir nicht gefallen?“

       Der Besitzer des Nuits Folles , eines berüchtigten Nachtklubs in Pigalle, war ein dunkelhaariger Mann in den Dreißigern, groß und von kräftiger Statur. Als er die Schultern unter dem brokatenen Hausmantel bewegte, zeichneten sich darunter die Muskeln ab. Ein Tropf also, wer sich vom warmen Braunton seiner Augen täuschen ließ. Gustave Ledoux, ehemaliger französischer Boxchampion im Mittelgewicht und Mädchen für alles, war kein Tropf. Sachte nahm er das Frühstückstablett vom Servierwagen und stellte es auf den kleinen runden Tisch direkt am Fenster. Dann schenkte er Kaffee in eine Schale ein, fügte etwas Milch und ein Stück Zucker hinzu, bevor er einen Schritt zurücktrat.