Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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und tellergroßen Augen neben ihm saß. Bei ihrem Anblick musste er unwillkürlich lächeln.

       Der Saal schien bis auf den letzten Platz ausverkauft zu sein, denn es vergingen noch viele Minuten, bis alle ihren Sitz eingenommen hatten. Minuten, in denen Andrej die aufgeblähten, gut genährten Menschen musterte und das Gefühl von Neid aus seinem Herzen zu verbannen versuchte. Gedankenverloren strich er mit der Hand über die linke Armlehne seines Stuhls, das Holz fühlte sich kühl und glatt an, bis seine Fingerkuppen unerwartet auf eine Unebenheit stießen. Sie war zugleich fest und weich und seltsam vertraut. Aber völlig fehl am Platz. Gerade als sich Andrej vorbeugte, um nachzuschauen, betraten der Chor und die Musiker die Bühne. Die Gespräche verstummten, und eine erwartungsvolle Spannung legte sich über den Saal. Die Armlehne rückte in den Hintergrund.

       Arturo Menotti erschien. Groß. Schwarz. Allmächtig. Er wandte sich zum Publikum und vollführte eine elegante Verbeugung, dabei kam es Andrej so vor, als würde er ihm direkt in die Augen schauen. Anschließend wandte sich der Maestro wieder dem Orchester zu und hob die Arme. Er musste nicht mit seinem Taktstock auf das Pult klopfen, denn alle Blicke waren bereits auf ihn gerichtet.

       Als der erste Ton von Mozarts Requiem erklang, raste Andrejs Herz vor Aufregung.

       Zwei Stunden später war es gebrochen.

       Ihm war auf grausame Weise klar geworden, dass es in diesem Orchester keinen Platz für ihn geben würde.

       Nach diesem denkwürdigen Abend ging alles sehr schnell. Arturo Menotti zeigte sich über Andrejs „kluge Entscheidung“ außerordentlich erfreut und bot ihm einen Obolus für die Unannehmlichkeiten an, den Andrej jedoch zurückwies. Der Maestro erzählte etwas von uralten Instrumenten und einer segensreichen Jugend, von Geben und Nehmen, doch die Worte zerplatzten wie Seifenblasen, bevor sie Andrej erreichen konnten. Die bevorstehende Trennung beherrschte sein ganzes Denken. Er hatte gefleht, mitkommen zu dürfen, doch Menotti war unnachgiebig gewesen. In den ersten, entscheidenden Jahren dürfte nichts Annas musikalische Entwicklung behindern, so sein Argument, Andrej wäre nur Ballast, eine unwillkommene Ablenkung. Am Ende wurde entschieden, dass Anna bei ihrem Vater bleiben würde, bis das Orchester weiterzog.

       Ihnen blieben zwei Wochen.

       Zwei Wochen voller Tränen, Beteuerungen, Selbstvorwürfe und Zwetschgenklöße, Annas Lieblingsspeise. Dann kam der Tag des Abschieds. Der Herbst zeigte sich von seiner berauschenden Seite, nicht eine Wolke verunzierte den tiefblauen Himmel. Sie standen am Hintereingang des Großen Theaters, nur wenige Stunden, bevor die Philharmonie der Zwei Welten nach Prag weiterreisen und ihm sein kleines Mädchen für unbestimmte Zeit entreißen sollte. Mit fahlem Blick verfolgte Andrej, wie Arturo Menotti durch die Tür trat und Anna aufforderte, ihm zu folgen. Er öffnete den Mund, um sie zurückzuholen, das Abkommen für nichtig zu erklären, doch kein Ton kam aus seiner trockenen Kehle. Anna war bereits in den engen Korridor getreten, dessen weniges Licht vom breiten Rücken des Maestros verschluckt wurde. Dann ließ sie ein leises Schluchzen hören, das ihm von den Wänden widerhallend tödliche Stiche versetzte.

       „Du musst keine Angst haben, Kind“, erklang Arturo Menottis allmächtiger Bass. „Ab jetzt sind wir deine Familie.“

       Am Ende des Weges streckte der Maestro die Hand aus, um einen schweren Vorhang beiseitezuschieben. Als gleißendes Licht hinausströmte, wandte Anna instinktiv den Kopf ab.

       „Auf Wiedersehen, Spätzchen!“, rief Andrej.

       Zu mehr reichte es nicht.

       Sie winkte ein letztes Mal, hielt die Arme vor ihrem Bauch über Kreuz – ich habe dich lieb, Tata –, dann trat sie durch das helle Karree.

       Es gab einen Luftzug, die Tür schlug mit einem lauten Knall zu, und Andrej stand vor dem Nichts.

      Kapitel 4 Paris, April 1926

       Das Schlagzeug tobte. Die Posaune krächzte. Die Trompete kreischte.

       Noch vor wenigen Monaten hätte ein Wirrwarr aus Armen und Beinen ausgelassen dazu gezappelt, Kreisel aus bunten Fransen wären durch den Raum gewirbelt und hätten schmale Frauenfesseln enthüllt, die von schwarz polierten Männerschuhen umgarnt wurden. Stattdessen versuchte sich ein einsames Paar am wilden Rhythmus des Charleston, während die Gäste an den spärlich besetzten Tischen ringsum mit gelangweilten Mienen zusahen.

       Magali, die gegenüber der Bühne oben im verglasten Büro stand, verzog bei diesem Anblick sorgenvoll das Gesicht. Sie trug ein aquamarines Kleid, farblich abgestimmte Hängeohrringe und kunstseidene Strümpfe. Ihre blauen Spangenpumps waren üppig mit Strass verziert. Die Lippen hatte sie dunkel nachgezeichnet, die Fingernägel waren rot lackiert. Im Klub herrschten andere Regeln, auch für eine Garçonne . Sie entdeckte Vincent, der in seinem purpurfarbenen Anzug die Gäste mit einem breiten Lächeln begrüßte, und ihr wurde schwer ums Herz. Sie wusste, wie viel Kraft es ihn kostete, gute Laune vorzugaukeln.

       Da verstummte die Musik plötzlich, und ein dunkel gekleideter Mann betrat die Bühne. Gespannt starrten alle auf den Conférencier, der mit großen Worten und weit ausholenden Gesten die „unglaubliche und atemberaubende Mistinguett!“ ankündigte. Woraufhin der Saal aus seinem Dornröschenschlaf erwachte. Es waren nicht mehr als dreißig Gäste anwesend, aber sie veranstalteten einen Riesenradau. Klatschten, schrien, pfiffen, trampelten mit den Füßen. Als lachten sie dem Dämon, der Paris in seinen Klauen hielt, offen ins Gesicht. Dann wurde es dunkel, während ein einzelner Scheinwerfer eine kleine Frau mit kurzen rotblonden Locken und Kulleraugen beleuchtete, die auf die Bühne schritt. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine Federboa. Als die Jazzband zu spielen begann, stemmte sie eine Hand in die Hüfte und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Dann öffnete sie den Mund und schlug augenblicklich alle in ihren Bann. Es umgab sie die faszinierende Aura eines Stars, wie sie sich da bewegte und ihren Blick träge durch den Raum schweifen ließ. Ihre Stimme, schrill und eine Spur vulgär, kannte sich mit dem Leben aus. Mistinguett sang ihr berühmtes Chanson „La Java“, dann „ ç a c’est Paris“, und alle stimmten mit ein. Nach fünf Liedern kochte der Saal. Mistinguett warf Küsse in die johlende Menge, und Magali musste unwillkürlich lächeln. Diese Frau musste man lieben.

       Gerade als die Sängerin ihre Zugabe anstimmte, betraten zwei neue Gäste den Klub. Sie trugen zu enge Anzüge mit schief angenähten Kragen und das Wort „Krawall“ in den Gesichtern geschrieben. Magali runzelte die Augenbrauen. Wo Freddy und Grapache auftauchten, war der Ärger vorprogrammiert. Die beiden Ganoven gehörten zum Gefolge der Näherin , einer Frau mit Vergangenheit, die in der ganzen Stadt illegale Wettbüros unterhielt. Die Großunternehmerin, wie sie sich selbst bezeichnete, nähte leidenschaftlich gern, vorzugsweise scheußlich aussehende Kleidungsstücke für ihre Mitarbeiter. Und wehe dem, der sich weigerte, sie zu tragen! Magali hatte die Näherin einmal aus der Ferne gesehen: eine üppig gebaute, ältere Frau mit blonden Korkenzieherlocken und durchdringendem Blick. Furchterregend.

       Mit wachsender Sorge sah Magali, wie die Neuankömmlinge auf Vincent zusteuerten, dessen Lächeln bei ihrem Anblick jäh erlosch. Mit einem Nicken verabschiedete er sich von seinen Gästen, um den beiden auf halbem Weg entgegenzukommen. Dort, wo sich der lange Büffettisch unter würzigen Schinken, Hasenpasteten und goldgebräunten Wachteln bog, trafen sie aufeinander. Bereits nach kurzer Zeit entbrannte ein hitziger Streit. Von ihrer Warte aus konnte Magali zwar kein einziges Wort hören, aber die Art und Weise, wie Freddy ihren Jugendfreund am Kragen packte, sprach Bände. Im Nu löste sich Gustave aus einer Ecke und trat mit großen Schritten auf die Gruppe zu. Doch bevor er einschreiten konnte, gab ihm Vincent mit einem Handzeichen