Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


Скачать книгу

und hinter jeder Tür wartete ein neues Klangwunder. Es gab so viel zu entdecken, so viele Möglichkeiten. Als würde sie auf einem gewundenen Weg durch einen Märchenwald laufen. Mal hockte sie bei den Streichern in der Ecke und spielte Mäuschen, mal war sie bei den Hornisten – im Übrigen ein sehr lustiger Haufen –, und die Wucht ihres Könnens erschütterte sie in ihren Grundfesten. Ihr kam es so vor, als hätten sich die besten Musiker der Welt in einem einzigen Orchester zusammengefunden. Manchmal nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und schlich sich in den leeren Konzertsaal, um den Maestro bei seinen Trockenübungen zu beobachten, während er so tat, als würde er sie nicht bemerken. Sie war fasziniert von seinen Bewegungen, seinem konzentrierten Gesichtsausdruck und dem leidenschaftlichen Blick, und schon jetzt verehrte sie ihn wie einen Großvater. Alle waren sehr nett zu ihr, und zum vollkommenen Glück fehlte nur ihr Tata, den sie schrecklich vermisste.

       Sachte klopfte sie an die Tür, als von der anderen Seite schon ein dumpfes „Komm rein“ erklang. Anna drückte die Klinke herunter. Es war nicht das erste Mal, dass sie den Raum betrat, trotzdem war es heute irgendwie anders. Die Garderobe des Maestros war nicht sehr groß, dafür herrschte dort eine heimelige Unordnung. Überall lagen Bücher und Notenblätter herum, in den Etageren stapelten sich weiße Hemden, ein schwarzer Frack, diverse Hüte und eine Geige. Auf dem Garderobentisch standen alte Fotografien Spalier, auf denen schwarz gekleidete Menschen mit strengen Gesichtern zu sehen waren.

       Maestro Menotti trat auf Anna zu, und der Raum schien mit einem Mal zu schrumpfen. „Du hast doch keine Angst vor mir?“, fragte er ernst.

       Das Mädchen schüttelte den Kopf.

       „Das ist gut. Nur wenn du angstfrei bist, wirst du das hier beherrschen können.“

       Mit diesen Worten nahm er Annas rechte Hand und legte etwas hinein, bevor er ihre Finger feierlich darüber schloss. Verwirrt blickte sie zu ihm hoch, als es plötzlich in ihrer hohlen Hand warm wurde. Erschrocken versuchte sie sich loszureißen, doch der Maestro hinderte sie daran.

       „Schau“, sagte er nur.

       Anna öffnete die Hand. Darin lag ein einfaches Rohrblättchen.

       „Es wird dich die Jahre über begleiten“, erklärte Maestro Menotti. „Dieses kleine Blättchen hier wurde, ebenso wie deine Klarinette, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt. Es ist unverwüstlich und verschleißt nicht. Du wirst es niemals austauschen müssen.“

       Daraufhin machte er einen Schritt zur Seite, um den Blick auf einen Stuhl freizugeben, auf dem ein länglicher schwarzer Kasten lag. Innerlich bebend steckte Anna das Rohrblättchen in die Tasche ihrer karierten Schürze und trat näher, um den Kasten zu öffnen. Dann aber hielt sie inne und blickte zum Maestro hoch, der ihr ein aufmunterndes Nicken zuwarf. Mit zitternden Händen klappte sie den Deckel auf. Im Kasten lag auf blauem Samt gebettet eine Klarinette aus schwarzem poliertem Holz und mit goldenen Klappen. Anna stockte der Atem. Genau genommen unterschied sich die Klarinette äußerlich nicht von anderen, dennoch glaubte sie, noch nie ein schöneres Instrument erblickt zu haben.

       Sie wollte die Klarinette packen, als Maestro Menotti sie ermahnte. „Sachte.“

       So vorsichtig wie nur möglich griff Anna nach dem Instrument. Als sich ihre Finger um das Holz schlossen, entfuhr ihrer Kehle ein Laut, ähnlich einem leisen Jauchzen.

       „Diese Klarinette wird zum Spiegel deines Herzens“, sagte Maestro Menotti. „Behandle sie gut. So gut wie dich selbst.“

       Anna, die nicht genau verstand, was der Maestro meinte, sich aber der Bedeutungsschwere seiner Worte gewahr wurde, nickte.

       Sie ist über 300 Jahre alt“, erklärte Menotti weiter. „Es heißt, die Klarinette wurde um 1720 in Nürnberg erfunden.“ In seinem Bass schwang ein Hauch von Spott. „Ein Irrglaube.“ Während der Maestro weitersprach, kam es Anna so vor, als würde sich das Instrument an ihre Hände schmiegen. Eigentlich hätte sie darüber Angst verspüren müssen, doch das Gegenteil war der Fall. „Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, kleine Anna, und ich möchte, dass du gut zuhörst, denn ich werde sie nicht wiederholen.“ Maestro Menotti schaute sie an, sperrte mit seinem Blick die Umgebung aus. „Vor vielen Jahren lebte in der Lombardei ein Junge. Sein Name war Lazzaro Tartini . Eines Tages entdeckte er auf einem Hügel in der Nähe seines Dorfes ein kümmerliches Stück Natur mit welken Blättern, das aus dem Boden ragte.“ Anna war noch nie in der Lombardei gewesen, dennoch setzte sich vor ihrem inneren Auge das Gehörte Bild für Bild zusammen. „Es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet, also rannte Lazzaro den Hügel hinunter, holte Wasser aus dem Dorfbrunnen und rannte wieder hinauf, um das Bäumchen zu gießen. Von da an machte er das jeden Tag, bis der Baum groß und kräftig war und Lazzaro in seinem Schatten schlafen konnte. Bald kamen die Menschen aus nah und fern, um den mächtigen, feuerroten Baum zu bewundern. Es handelte sich um einen Feuerahorn. Hast du schon einmal einen Feuerahorn gesehen, kleine Anna?“

       Sie schüttelte den Kopf.

       Ich hoffe für dich, dass du es eines Tages wirst, denn es ist ein prachtvoller, stolzer Baum, von einer Glut, die nur die Natur zu schaffen imstande ist. Nun aber zurück zur Geschichte … Während Lazzaro zum Manne reifte, wuchsen unter den Dorfbewohnern Gier und Neid, und als sich der junge Mann eines Tages auf Reisen begab, bewaffneten sie sich mit Äxten und stiegen den Hügel hinauf.“ Maestro Menotti legte eine kurze Pause ein, und als er fortfuhr, klang seine Stimme noch tiefer als sonst. „Sie benötigten eine ganze Woche, um den Baum zu fällen. Als Lazzaro zurückkehrte, hatten die Dorfbewohner seinen geliebten Feuerahorn ausgeweidet und das kostbare Holz unter sich aufgeteilt. In seinem Schmerz wanderte er ziellos umher, bis er am Fuße des Hügels ein großes Stück des einstmals mächtigen Baumstamms entdeckte, das die Dorfbewohner offensichtlich übersehen hatten. Er schleppte die Überreste zu seinem Haus und widmete sein Leben fortan der Aufgabe, daraus zwölf magische Instrumente zu erschaffen, wie sie die Welt noch nie gesehen oder gehört hatte.“ Kurze Pause. „Eines davon hältst du in den Händen.“

       Mit tellergroßen Augen blickte Anna zunächst auf die Klarinette, dann in Maestro Menottis freundliches Antlitz. Ein magisches Instrument? Der Unglaube stand ihr ins Gesicht geschrieben, was ihrem Gegenüber ein Lachen entlockte.

       „So skeptisch, kleine Anna? Aber steckt nicht in jedem Instrument ein Stück Magie?“ Er zwinkerte ihr zu. „An dir liegt es, sie zum Leben zu erwecken.“

       Annas Lächeln wurde breiter.

       Die zwölf Instrumente aus dem Feuerahorn bilden den musikalischen Grundstock der Philharmonie der Zwei Welten , sagte er weiter und wies auf die Klarinette. Siehst du, hier auf dem Trichter ist ein T eingraviert, es steht für Tartini. Alle Zwölf sind mit diesem Signet versehen.“

       Ehrfürchtig strich Anna über den geschwungenen Buchstaben, er war kaum zu spüren, so dünn war der Strich. Plötzlich zuckte sie zusammen, und Tränen schossen ihr in die Augen. Aus ihrem rechten Zeigefinger quoll ein einzelner Blutstropfen. Sie hatte sich die Haut am Signet aufgeritzt. So unbedeutend die Verletzung auch war, so ungleichmäßig stark war der Schmerz. Schluchzend steckte sie den Finger in den Mund, um das Blut abzulecken.

       „Der Schmerz geht wieder vorüber“, erklärte der Maestro mit sanfter Stimme.

       Ungeachtet der tröstenden Worte spürte Anna, wie die Schamesröte in ihre Wangen schoss. Ich habe meine neue, wunderschöne Klarinette beschmutzt. Was bin ich dumm und ungeschickt! Etwas Blut war in die Ritze des Signets gesickert, das sie wegzuwischen versuchte. Ihre Mühe war jedoch vergeblich,