Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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Doktor Boudin seufzte. „Ich habe in den letzten Tagen schlimmere Dinge gesehen, glauben Sie mir.“

       „Tatsächlich?“, erwiderte Vincent mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse.

       „Ich war derjenige, der diese arme Frau für tot erklärt hat, wissen Sie.“ Doktor Boudin setzte kurz die Brille ab, um seine Augenlider zu massieren.

       „Welche arme Frau?“

       Sie haben bestimmt davon gehört.“ Er setzte die Brille wieder auf. „Zurzeit redet man in Paris von nichts anderem. Die junge Frau aus der Rue de Condé, die in ihrem Bett verwelkt ist wie eine Rose in der Wüste.“

       Vincent horchte auf. „Véronique Milhaud?“

       „Ja.“

       Sein Herzschlag beschleunigte sich etwas. „War sie wirklich skelettiert, so wie es in der Zeitung abgebildet war?“

       „Aber nein. Was für ein Unfug! Sie sah aus, als …“ Der Arzt suchte nach den richtigen Worten. „… als hätte man ihr das Leben ausgesogen. Ich glaube, die arme Frau hat darüber den Verstand verloren.“

       „Wie kommen Sie darauf?“

       Doktor Boudin zögerte kurz, offenbar wägte er ab, wie viel er erzählen durfte, dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann Ihnen leider nichts darüber sagen.“

       „Haben Sie sich nicht so.“ Vincents Stimme hatte einen drängenden Ton angenommen. „Es bleibt auch unter uns.“

       „Nein, nein!“ Der Arzt hob abwehrend die Hände. „Ich habe schon zu viel gesagt.“ Plötzlich schien er es sehr eilig zu haben, Vincent loszuwerden. „Entschuldigen Sie, Monsieur Lefèvre, aber mein nächster Patient wartet bereits.“

       Vincent verbarg seine Enttäuschung. „Schon gut, Doktor, und vielen Dank“, sagte er und wedelte mit dem Fläschchen in seiner Hand. „Auch für das hier!“

       Er hatte gerade noch Zeit, ein letztes Mal zu nicken, bevor die Tür des Sprechzimmers hinter ihm zugeschlagen wurde.

       Gustave, der draußen auf ihn wartete, saß auf dem Trittbrett des Peugeot 177 und las Zeitung, in seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette, eine Gauloises Caporal, seine Lieblingsmarke. Als er Vincent bemerkte, sprang er auf.

       „Patron! Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass die Polizei eine Belohnung von 10.000 Francs ausgesetzt hat; für den entscheidenden Hinweis, der zur Lösung der Methusalem-Todesfälle führt.“ Er fuchtelte mit der Zeitung. „Steht hier.“

       „10.000 Francs, hm?

       „Ja.“

       Das würde unsere Probleme auf einen Schlag lösen“, murmelte Vincent nachdenklich. Auf der Hinfahrt hatte er Gustave erzählt, wie er zu seinem neuen Aussehen gekommen war. „Trotzdem würde ich der Näherin lieber meine Faust ins Maul stopfen als Banknoten!“

       Nichts für ungut, Patron, aber wir sind nur zu zweit. Die Näherin hat Dutzende Männer, die keine Skrupel haben, ihre Großmutter für hundert Francs abzumurksen.“ Obwohl niemand in Hörweite war, senkte Gustave die Stimme. „Ich habe gehört, Grapache soll eine Schusswaffe besitzen.“

       Vincent blickte finster zurück. „Na und? Ich habe auch eine.“

       Gustave sagte nichts, rieb sich lediglich den Nasenrücken.

       „Keine Sorge“, fügte Vincent hinzu. „Ich habe nicht vor, einen Krieg anzuzetteln. Zum jetzigen Zeitpunkt würden wir mit wehenden Fahnen untergehen. Alles, was ich will, ist den Klub retten.“

       „Verstanden, Patron.“ Gustave wirkte erleichtert.

       „Und jetzt lass uns zu Magali fahren!“

       Sind Sie sicher?“ Gustave drückte seine Gauloises Caporal mit zwei Fingern aus und verstaute sie in der rechten Brusttasche, bevor er seinem Chef die Beifahrertür öffnete. „Sie werden sich einiges anhören müssen.“

       Nach der erwarteten Tirade des Entsetzens angesichts seiner geschwollenen Nasenpartie samt blauvioletter Färbung und seines schwerfälligen Humpelns, die Vincent mehrmals vergeblich mit einem „halb so schlimm“ zu stoppen versuchte, erklärte sich Magali bereit, sich in der Rue de Condé umzuhören, um die Hausnummer der Toten in Erfahrung zu bringen. Aber nicht mehr! Vincent war guter Dinge. Der Vormittag hatte eine unerwartete Wendung genommen und ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Véronique Milhaud hatte den Verstand verloren, so der Doktor, das Leben war ihr ausgesogen worden ... Äußerst mysteriös. Sobald Vincent die vollständige Adresse der Toten kannte, würde er einen Weg finden, alles darüber zu erfahren. Es gab für ihn zehntausend gute Gründe, dieses Rätsel zu lösen, und Véronique Milhaud war erst der Anfang.

       Nachdem sie Magali in der Rue de Condé abgesetzt hatten, parkten Vincent und Gustave in der Parallelstraße und warteten im Wagen auf ihre Rückkehr. Der ehemalige Boxer nutzte die Zeit, um wertvolle Ratschläge zu erteilen.

       „Immer schön Eis darauf legen.“

       „Ich weiß.“

       „Und nicht auf dem Bauch schlafen, Patron!“

       „In Ordnung.“

       „Aber auch nicht auf dem Rücken, falls Sie wieder Nasenbluten haben.“

       „Ich verstehe.“

       „Denken Sie daran, den Verband täglich zu wechseln.“

       „Ja.“

       „Sie wollen doch am Ende nicht so aussehen wie ich.“

       „Nein.“

       „Dachte ich mir.“

       „Ist nicht persönlich gemeint.“

       „Weiß ich doch, Patron.“

       Nach einer guten Stunde kam Magali zurück. Ihre kurzen Haare waren zerzaust, offenbar war sie gerannt, um ihnen die Neuigkeit schnellstmöglich zu überbringen.

       „Ich habe ein paar Geschäfte abgeklappert. Bei Challois, dem Pferdemetzger, bin ich fündig geworden“, begann sie, nachdem sie auf die Rückbank des Peugeots geklettert war, wo Nickel und gelbes Leder glänzten. Sie ließ ein mit Zeitungspapier umwickeltes Bündel lautstark auf den teuren Sitz knallen. „Hüftsteaks“, fügte sie hinzu.

       „Fantastisch“, bemerkte Vincent trocken und schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag.

       Véronique Milhaud hat in Haus Nummer 8 gewohnt“, sagte Magali weiter, während sie ihr Bild im Rückspiegel suchte und ihre Frisur, so gut es ging, wieder in Ordnung brachte. „Aber das ist nicht alles. Der gute Mann konnte mir noch ein paar Informationen aus erster Hand liefern. Er hat sie von einem jungen Mädchen, das im Haus der Milhauds als Dienstmädchen arbeitet. Ein recht einfältiges, aber sehr gesprächiges Ding. Madame Milhaud war offenbar die Tochter eines Notars aus Lyon.“ Als Magali sich nach vorne lehnte, konnte Vincent ihr Parfum riechen. „Gerüchten zufolge ist ihr Vater in