Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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Bald wird davon nichts mehr zu sehen sein.“

       Mit gerunzelter Stirn blickte Anna zum Maestro hoch. Sie hatte so viele Fragen.

       Du wirst eines Tages verstehen“, sagte er, ganz so, als ob er ihre Gedanken lesen konnte. „Und jetzt probier sie aus.“

       Also wischte sich Anna den Finger an ihrer Schürze ab, fischte das Rohrblättchen aus der Tasche und befestigte es mit wenigen Handgriffen an dem schnabelförmigen Mundstück ihrer Klarinette. Dann führte sie das Instrument an die Lippen. Das Mundstück saugte sich an ihnen fest, die Klappen drückten begierig gegen ihre Fingerkuppen. Kurz hielt sie inne.

       „Nur zu“, sagte Maestro Menotti mit einem aufmunternden Zwinkern.

       Sie lächelte zurück und blies sanft hinein. Ein einzelner Ton erklang, so rein wie Morgentau. Die Schwingung im Inneren der Klarinette erfasste ihren Körper, setzte ihr Herz in Brand, während ihre Seele von einem tiefen Summen erfüllt wurde. Überwältigt schloss Anna die Augen.

       Die Symbiose hatte begonnen.

      Kapitel 6 Paris, April 1926

       Ein jäher Schmerz brachte Vincent in die Gegenwart zurück. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann, unkontrolliert zu zittern. Kopf und Beine hatten Feuer gefangen, während sein Körper dazwischen aus Luft zu bestehen schien. Als ob sein Torso herausgeschnitten worden wäre. Ihn überkam Panik, und er blinzelte heftig. Ein Schatten beugte sich über ihn. Vincent wollte aufspringen, um sich schlagen, weglaufen, doch er war in einem Schmerzpanzer gefangen, unfähig, sich zu bewegen. Weil Tränen ihm die Sicht raubten, konnte er keine Details erkennen, also blinzelte er so lange, bis das Bild einigermaßen klar wurde. Vor ihm stand ein Mann mit einem faltigen Gesicht, das von einem dicken schwarzen Schnurrbart dominiert wurde, darüber thronte ein wirrer Lockenkopf, der an manchen Stellen bereits weiß wurde. Die dunklen Augen schauten besorgt, und es sah nicht so aus, als würde er das Werk der Näherin fortsetzen wollen.

       Der eiserne Griff in Vincents Nacken lockerte sich etwas, dennoch fühlte sich sein Schädel zentnerschwer an, als er ihn zur Seite drehte, um sich umzuschauen. Die Seitengasse war verschwunden. Keine Leuchtreklamen, keine Straßenlaternen, kein fernes Hupen. Nur Zwielicht und ein beunruhigendes Wispern. Vincent fröstelte.

       „Wo bin ich?“, krächzte er und spuckte einen Klumpen Blut aus.

       „Im Bois de Boulogne“, antwortete der Fremde. Er sprach Französisch mit deutschem Akzent.

       „Wie komme ich hierher?“

       „Sie können sich nicht erinnern?“

       Vincent schüttelte den Kopf und bedauerte es sofort, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam. Benommen umfasste er die Holzbank, auf der er saß, und senkte den Blick. Zu seinen Füßen lagen jede Menge blutige Taschentücher.

       „Halten Sie still, Monsieur“, sagte der Mann weiter. „Ihre Nase ist gebrochen. Ich habe sie wieder gerichtet, aber Sie müssen langsam machen. Ich glaube, Sie haben eine Gehirnerschütterung.“

       „Was ist passiert?

       „Dahinten steht mein Kiosk.“ Der Fremde zeigte in eine unbestimmte Richtung.

       Ein Deutscher, der in Paris einen Kiosk betrieb?

       Vincent wunderte sich, sagte jedoch nichts. „Ich habe gesehen, wie ein Automobil am Bois angehalten hat“, erklärte der andere weiter, „dann sind zwei finster aussehende Burschen ausgestiegen und haben Sie hier abgeladen.“

       Wie in Zeitlupe hob Vincent die rechte Hand, um seine Nase zu berühren und zuckte zusammen. „Sie haben meine Nase gerichtet, sagen Sie?“

       Ja, keine große Sache. Ein kleiner Ruck, mehr war nicht nötig.“ Der Mann verschränkte die Arme. „Man hat Sie übel zugerichtet, Monsieur. In wenigen Stunden wird Ihr Gesicht grün und blau sein, fürchte ich.“

       Vincent lehnte sich vorsichtig zurück. „Und Sie sind?“

       „Nennen Sie mich Bébère.“

       „Ihr Kiosk ist um diese Uhrzeit noch geöffnet?“

       Der andere warf ihm einen unergründlichen Blick zu. „Das kommt vor.“

       Vincent, der sich benommen fühlte, schloss die Augen.

       „Wissen Sie, wer die waren, Monsieur?“

       Vincent wollte nicken, besann sich aber rechtzeitig. „Ja.“

       Wut überkam ihn, als er an Freddy und dessen Freunde dachte. Unwillkürlich ballte er die Fäuste, und der Druck in seinem Kopf stieg unangenehm an.

       „Sie müssen zur Polizei gehen und Anzeige erstatten“, warf sein Retter ein, was er geflissentlich ignorierte.

       Stattdessen öffnete er die Augen und blickte seinen Gegenüber an. „Ich heiße Vincent. Vincent Lefèvre.“

       Als Bébère lächelte, erweckte er eindrucksvolle Krähenfüße zum Leben. „Sehr angenehm.“

       „Bébère ist die Abkürzung von Albert, richtig?“, fragte Vincent.

       Kurzes Nicken.

       „Und Ihr Nachname?“ Vincent wusste gern, mit wem er es zu tun hatte.

       „Einfach nur Bébère.“

       Heute konnte er eine Ausnahme machen. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Bébère.“

       Als er versuchte aufzustehen, fuhr ein scharfer Schmerz durch seine Knie.

       „Monsieur, was tun Sie da?“

       „Ich muss nach Hause.

       „Sie sollten sich erst einmal ausruhen.“

       „Haben Sie Telefon?“

       Bébère lachte. „Telefon in einem Kiosk?“

       „Sie haben recht.“ Vincent seufzte. „Wie weit ist es bis dahin?“

       „Keine hundert Meter. Ich werde Sie stützen. Allein hätte ich Sie nicht tragen können, deshalb habe ich Ihre Nase gleich hier verarztet. Ich wollte nicht, dass Sie an Ihrem eigenen Blut ersticken.“

       Sehr aufmerksam.“ Vincent schnitt eine Grimasse. „Kommen Sie, verschwinden wir von hier! Ich frier mir den Hintern ab.“

       „Gern.“

       Mit Bébères Hilfe stand er auf. Der ältere Mann war zwar einen halben Kopf kleiner, dennoch umfasste er ihn entschlossen, sodass sich Vincent auf seine Schulter stützen konnte. Ein schlecht beleuchteter Kiesweg führte aus der Dunkelheit heraus, und schon bald erhaschte Vincent zwischen den wispernden Bäumen ein Glitzern, das sich beim Näherkommen als typischer Pariser Kiosk entpuppte. Er stand direkt am Eingang zum Bois: ein fünfeckiger, holzverkleideter Bau mit einer Kuppel, die an einen indischen Tempel erinnerte. Obwohl der Kiosk geschlossen war, leuchtete er wie ein Weihnachtsbaum. Ein strahlendes Eiland in der Finsternis.