Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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kramte er in seiner Tasche nach dem Schlüssel, während Vincent mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte. Dann öffnete Bébère die Tür, und ein Lichtspalt zeigte sich auf dem Boden. Hell und verführerisch. Dankbar kam Vincent der Einladung nach und humpelte ins Innere.

       „Nehmen Sie Platz, Monsieur Lefèvre.“

       „Vincent“, verbesserte er den anderen, während er sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl setzte. „Danke.“

       Hier.“ Bébère legte ihm eine Wolldecke um die Schulter, die zwar muffig roch, ihn dennoch wie eine warme Umarmung umfing, dann drückte er ihm ein Taschentuch für seine blutende Nase in die Hand. „Und jetzt lassen Sie mich Ihre Beine sehen.“

       „Das ist nicht nötig.“

       „Zeigen Sie mir Ihre Beine!“

       Ihre Blicke trafen sich zu einem stummen Duell. Vincent, dem heute nicht mehr nach Kämpfen zumute war, warf bereits nach wenigen Sekunden das Handtuch und rollte seine Hosenbeine anstandslos nach oben. Als Bébère die violette Färbung auf seinen Knien sah, stieß er einen leisen Pfiff aus, dann tastete er die Stelle vorsichtig ab. Indessen begutachtete Vincent neugierig seine Umgebung. Dabei legte er den Kopf leicht in den Nacken, um die Blutung aus seiner Nase zu stoppen. Zur Straße hin befand sich eine große Öffnung, die mit einem Holzbrett verschlossen war, daneben stand eine relativ neu aussehende Registrierkasse. Ein Monstrum aus Metall mit Knöpfen, Schaltern und einer Kurbel an der Seite. Eine ähnliche Kasse befand sich auch hinter der Bar des Nuits Folles . In den Regalen rundum stapelten sich Zeitungen und Magazine wie Ziegelsteine aufeinander, dazwischen gab es jede Menge Nippes: Postkarten, Papiervögel, handgroße Eiffeltürme, Puppen in Cancan-Kostümen, Miniaturholzschuhe, bunte Murmeln, muschelbesetzte Schmuckkästchen, Zuckerstangen, ein volles Bonbonglas.

       „Interessanter Laden“, murmelte Vincent.

       Bébère schmunzelte. „Danke, ich sehe ihn als ein Sammelsurium menschlicher Entgleisungen.“ Dann wurde er ernst. „Ich bin zwar kein Arzt, aber ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist. Vielleicht haben Sie eine Verstauchung.“

       Nach diesen Worten richtete er sich wieder auf und streckte sich. Dabei knackte es in seinem Rücken.

       „Haben Sie keinen zweiten Stuhl?“, fragte Vincent, der ein schlechtes Gewissen hatte. Schließlich war der Mann älter als er.

       Bébère zögerte eine Sekunde, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein.“

       „Mhm.“

       „Aber das ist kein Problem. Sehen Sie!“ Er schnappte sich einen Stapel Zeitungen und setzte sich darauf. „Die Ausgaben vom letzten Monat.“

       Eine Zeitlang blickten sie sich schweigend an, bis Vincent die Stille brach.

       Was hat Sie eigentlich nach Paris verschlagen? Es gibt viele Ausländer hier, aber meistens sind es Russen oder Amerikaner. Seit Unterzeichnung des Versailler Vertrags machen Ihre Landsleute eher einen großen Bogen um unser Land.“

       „Sie nehmen wohl kein Blatt vor den Mund, was?“ Bébère wirkte eher amüsiert als verärgert.

       „Ich bin bloß neugierig.“

       „Ich brauchte einen Tapetenwechsel. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass hier eine Aufgabe auf mich wartet.“

       „Was für eine Aufgabe?“

       Das weiß ich auch nicht. Wenn es soweit ist, werde ich es schon merken.“ Bébère grinste. „Und was machen Sie so im Leben?“

       Vincent entging der abrupte Themenwechsel nicht, doch weil er in Bébères Schuld stand, ließ er die Sache auf sich beruhen. „Ich betreibe einen Klub“, antwortete er und tupfte sich die Nase ab. Inzwischen war das gesamte Taschentuch rot gefärbt. „Vielleicht haben Sie schon mal davon gehört: das Nuits Folles unten in Pigalle.“

       Bébères Gesicht hellte sich auf. „Na und ob! Es heißt, es sei ein sehr schicker Laden und nicht minder verrucht. Allerdings war ich noch nie dort. Ich gehöre nicht unbedingt zu Ihrer Klientel.“

       Vincent rang sich ein Lächeln ab, das sich anfühlte, als würde man ihm ein glühendes Eisen unter die Gesichtshaut stoßen. „Es wäre mir eine Ehre, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Selbstverständlich geht dann alles aufs Haus!“

       „Ich danke Ihnen. Wer weiß, vielleicht eines Tages ...“ Bébère zwinkerte, was ihm ein spitzbübisches Aussehen verlieh, dann reichte er Vincent ein frisches Taschentuch, das er aus der Hosentasche zog. Offenbar besaß er einen unerschöpflichen Vorrat. „Wie laufen die Geschäfte? Ich hoffe, gut.“

       Vincents Gesicht verschloss sich schlagartig.

       „Oh, tut mir leid. Ich wollte nicht indiskret sein.“

       Vincent machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon gut. Sie haben nur einen wunden Punkt getroffen.“

       „Wollen Sie darüber reden?“

       Vincent war kein Mensch, der sich Fremden anvertraute, hatte ihn das Leben doch gelehrt, dass sie meistens nichts Gutes im Schilde führten. Nachdenklich musterte er Bébère, wie er da auf seinem Zeitungsstapel saß, die dunklen Augen auf ihn gerichtet, die Hände ineinander verschränkt. Im Kiosk war es warm und gemütlich; die gebrochene Nase pochte in erträglichem Maße (sofern er seine Gesichtsmuskeln nicht zu sehr bemühte), die Blutung schien nachzulassen, und die wunden Knie konnte er getrost ignorieren. Als der Deutsche hinter sich griff und eine Flasche Pastis mit zwei Gläsern hervorzauberte, gab das den Ausschlag.

       „Es geht um diese verfluchte Methusalem-Seuche“, begann Vincent leise. „Sie wird mich noch ruinieren.“

      

      Kapitel 7 Paris, April 1926

       „Sie wollen mir also nicht verraten, wer die Leute waren, die Sie so zugerichtet haben?“ Doktor Boudin schaute seinen ramponierten Patienten über den Rand seiner Brille hinweg an.

       Vincent zuckte mit den Schultern.

       „Wie Sie meinen.“ Der Arzt, ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und Nickelbrille, setzte sich zurück an seinen Schreibtisch. „Sie können sich wieder anziehen.“

       Während Vincent hinter dem Paravent verschwand, redete der Doktor weiter. „Sie hatten Glück. Sie haben an den Knien nur einige Prellungen, und was das Wichtigste ist, Ihr Kopf ist heil geblieben. Bis auf das Gesicht natürlich. Trotzdem sollten Sie sich die nächsten Tage schonen. Es kann sein, dass Ihnen immer wieder übel wird.“ Er holte aus der Schublade etwas hervor. „Ich gebe Ihnen eine Cannabistinktur. Ein paar Tropfen unter der Zunge werden genügen, um Ihre Kopfschmerzen zu lindern. Bitte nehmen Sie die Medizin nur einmal am Tag ein.“

       „Und die Nase?“

       „Sie wird wieder zusammenwachsen.“ Der Arzt blickte auf, als Vincent wieder vor den Paravent trat. „Wer immer Ihre Nase gerichtet hat, wusste, was er tat. Haben Sie eine Eismaschine im Haus?“

       Im Klub befindet sich eine.“

       „Gut. Sehen Sie zu, dass Sie Ihr Gesicht kühlen,