Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf


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„Ich bin oben, wenn mich jemand sucht“, sagte sie zu dem Barmann, dann glitt sie von ihrem Hocker.

       Das schrille Klingeln des Telefons im Büro ertönte genau in dem Augenblick, als sie ihren Fuß auf die Treppe setzte.

       „Hallo?“, meldete sie sich kurz darauf. Sie war etwas außer Atem. „Ah, hallo Emile … er ist beschäftigt … Kann ich ihm etwas ausrichten? … Was? Oh, mein Gott! … Wann ist das passiert? ... Das ist ja furchtbar … Ich werde es ihm sagen … Danke … Ja, dir auch … Auf Wiedersehen!“

       Wie betäubt hängte Magali den Hörer zurück, dann ging ein Ruck durch ihren Körper und sie stürzte zurück in den Saal. Als Vincent sie bemerkte, zog er Stella mit einem trotzigen Gesichtsausdruck fester an sich. Manchmal benahm er sich wie ein Kind!

       „Vincent, ich muss dich sprechen.“

       Als er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, fügte sie ein herrisches „Allein!“ hinzu, worauf Stella einen theatralischen Seufzer ausstieß und sich aus der Umarmung löste.

       Bis nachher, Darling“, hauchte sie und ging.

       Vincent verschränkte die Arme. „Was ist?“, fragte er kühl.

       „Emile hat gerade angerufen“, sagte Magali leise. Sofort ließ er die Arme sinken und beugte sich alarmiert nach vorn. „Kommissar Fournier ist tot“, erklärte sie weiter. „Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.“

       Inzwischen war es kurz nach zwei. Die letzten Gäste waren bereits vor einer halben Stunde gegangen, und es war ungewiss, ob noch jemand kommen würde, also beschloss Vincent, den Klub zu schließen. Magali und einen Großteil des Personals hatte er bereits vor Stunden nach Hause geschickt. Die Nachricht von Fourniers Tod hatte seiner Freundin stark zugesetzt. Und dann noch dieser dumme Streit …

       „Soll ich eine letzte Kontrollrunde machen, Patron?“, fragte Gustave, nachdem die restlichen Mitarbeiter den Klub verlassen hatten.

       Vincent schüttelte den Kopf. „Geh nach Hause. Ich bekomme das allein hin.“

       „Verstanden. Gute Nacht, Patron!“

       „Gute Nacht, Gustave.“

       Als Vincent durch den leeren Klub schritt, die Absätze seiner Schuhe klangen in der Stille überlaut, wurde er wehmütig. Er hatte Jahre geschuftet, um sich seinen Traum zu erfüllen, und er würde den Teufel tun, ihn jetzt aufzugeben. Der Klub war sein Zuhause, das einzige, das er jemals gehabt hatte. Gustave, Papi und all die anderen waren seine Familie. Sich mit der Näherin einzulassen, war ein Fehler gewesen. Magali hatte natürlich recht gehabt. Wie sooft.

       Versonnen streifte er mit einer Hand über den schwarzen Flügel – vor einigen Jahren war Maurice Ravel, der bekanntermaßen an Insomnie litt, im Klub aufgetaucht und hatte sein Gaspard de la Nuit darauf gespielt: ein zwanzigminütiges Klavierstück, das von einem Dämon handelte, der die Menschen vom Schlaf abhielt. Danach hatte er sich verbeugt und war gegangen, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Vincent lächelte. Lediglich eine von vielen Erinnerungen.

       Ein leises Poltern riss ihn aus seinen Gedanken. Ungehalten steuerte er den Bereich hinter der Bühne an.

       „Noch jemand da?“, rief er, während er die Tür aufstieß. „Seht zu, dass ihr nach Hause kommt, Leute! Wir haben schon längst Feierabend.“

       Es wäre nicht das erste Mal, dass die Künstler außerhalb der Öffnungszeiten eine kleine Privatparty veranstalteten.

       „Hallo?“, rief er noch einmal, doch ihm schlug nur Stille entgegen.

       Zur Sicherheit kontrollierte er jede Ecke, schaute hinter jede Tür, hinter jeden Paravent, in jeden Schrank, bis er den Kopf schüttelte. Offenbar hatte er sich von Magalis Nervosität anstecken lassen. Nachdem er die restlichen Räumlichkeiten gründlich überprüft hatte, löschte er die Lichter und schloss den Klub von außen ab.

       Für die Jahreszeit war die Nacht mild und der Himmel sternenklar. Vincent freute sich auf den rund halbstündigen Spaziergang, der ihn entlang des Boulevard de Clichy führen würde, dann durch das Montmartre-Viertel bis zur Place de Saint-Pierre, wo sich seine Wohnung befand. Die Nachtluft würde ihm helfen, den Kopf freizubekommen, schließlich galt es, einen Ausweg aus der finanziellen Misere zu finden – und zwar schnell. Der hell erleuchtete Boulevard war menschenleer. Keine fröhlich hupenden Automobile, keine gut gekleideten Paare, die forschen Schrittes verheißungsvollen Zielen entgegeneilten. Eine für Paris widernatürliche Stille, der etwas Unheimliches anhaftete.

       Hinter dem dunklen Café Américain , tagsüber ein beliebter Treffpunkt von Künstlern und Schriftstellern, bog Vincent in eine schmale Gasse ein, eine düstere Ader inmitten einer pulsierenden Stadt, die ihn schneller an sein Ziel führen würde. Er hatte sie gerade zur Hälfte durchquert, als sich ein Schatten aus dem Halbdunkel schälte und sich ihm in den Weg stellte. Die grimmig dreinblickende Gestalt war ihm wohlbekannt.

       „So spät noch unterwegs, Freddy?“, fragte Vincent betont lässig. Seine rechte Hand rutschte Richtung Jackentasche, wo sein Schlagring steckte. „Was wird deine Mami dazu sagen?“

       Im selben Moment nahm er aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr – ein Hinterhalt! – und die Zeit lief plötzlich langsamer. Er duckte sich, und während der Hieb seines Angreifers, eines bulligen Kerls in viel zu kurzen Ärmeln, ins Leere ging, holte er aus und stieß seinen Schlagring mit voller Wucht in dessen Magen. Der Kerl klappte zusammen wie ein Taschenmesser, aber Vincent hatte keine Zeit, seinen kleinen Triumph auszukosten, denn schon grub sich Freddys Faust von hinten in seine Nieren. Er ächzte und geriet ins Stolpern, doch dann fing er sich wieder und wirbelte herum. Mit der freien Hand fegte er Freddys Arm hoch, bevor dieser erneut zuschlagen konnte, und versetzte ihm mit dem Schlagring einen Hieb auf den Solar Plexus. Der andere knickte nach vorne ein, und Vincent rammte ihm sein Knie ins Gesicht. Aus Freddys Kehle entwich ein Geräusch, als würde man die Luft aus einem Gummischlauch lassen, und Vincent konnte sich ein wölfisches Grinsen nicht verkneifen. Mit den beiden Idioten würde er schon fertig werden. Kampflustig drehte er sich um und nahm den Kerl mit den Kinderärmeln, der sich gerade wieder aufrappelte, erneut ins Visier.

       Leider hatte er nicht mit dem dritten Idioten gerechnet, der wie aus dem Nichts auf ihn zusprang und ihm mit einem einzigen gekonnten Tritt das Nasenbein brach. In Vincents Schädel explodierte der Schmerz. Er schrie auf, torkelte einige Schritte rückwärts, dann fiel er mit seinem gesamten Gewicht auf die Knie. Stöhnend kippte er zur Seite, während Blut seinen Mund flutete. Der Kampf war zu Ende, bevor er richtig begonnen hatte.

       Im nächsten Moment wurde sein Kopf brutal hochgerissen. Durch einen roten Schleier hindurch erkannte er Freddy. In dessen blutendem Gesicht lag kalte Wut.

       Ein kleines Andenken der Näherin “, zischte dieser und holte aus. „Damit du nicht vergisst, deine Schulden zu bezahlen.“

       Dann ließ er seine mächtige Faust auf Vincent niederkrachen.

      Kapitel 5 Prag, Januar 1920

       „Mein liebes Kind, du bist schon seit drei Monaten bei uns. Nun ist die Zeit gekommen, dir deine treue Gefährtin für die nächsten Jahre darzureichen“, hatte Maestro Menotti beim Frühstück feierlich verkündet.

       Jetzt stand Anna