Michael Stuhr

MICHAEL STUHRS FANTASY-DOPPELBAND


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gewählt worden. Wer von euch Zweifel hat, den harten Anforderungen gewachsen zu sein, der trete nun vor, und ich werde seinen Namen von dieser Tafel löschen!"

      Keiner der jungen Scharleute regte sich auch nur um einen Fingerbreit.

      "So sprecht mir denn nach", fuhr der Obmann in dem traditionell vorgegebenen Text fort und begann mit getragener Stimme den Eid der Scharleute zu sprechen, wobei er nach jeweils wenigen Worte eine Pause einlegte, in der die Erwählten den Text im Chor wiederholten: "Wir sind der Sturmflottenschar auf ewig ergeben. Wir werden ihre Geheimnisse hüten und für unser Schiff eintreten mit der Kraft unseres Geistes, des Körpers und unseres Lebens!"

      Eine heiße Welle der Sehnsucht riß Teri mit sich fort. Halblaut hatte sie den Text des Eides mitgesprochen. Einen Moment lang war sie versucht, einfach auf die Bühne zu klettern und sich in die Gruppe der Erwählten einzureihen - aber das war natürlich dummes Zeug.

      "Ein jeder von euch ist nun für alle Zeiten Mitglied der Sturmflottenschar", erhob Athan nun wieder die Stimme, als die nachgesprochene Eidesformel verklungen war. "Nichts als der Tod wird euch von diesem Recht und dieser Pflicht entbinden. Geht nun in den Schwalbenhafen und lernt euer Handwerk gut. Im nächsten Frühjahr werdet ihr mit den Schiffen fliegen!"

      Wie auf ein geheimes Kommando hoben die Verkünder nun ihre Fanfaren, um das Schweigegebot aufzuheben, aber noch vor dem ersten Ton löste sich die Anspannung der Menge in tosendem Jubel. Jeder versuchte, den Eltern eines neuen Scharmitglieds die Hand zu reichen, nur das kleine Häuflein der abgelehnten Bewerber stahl sich beschämt von der Bühne.

      Teris Blick hing wie gebannt an der Gestalt Athans, der nun zu jedem einzelnen der jungen Leute trat, um sie zu ihrer Wahl zu beglückwünschen. Dann händigte er die frische Tontafel dem Obmann der Brenner aus, der sie mit sich nahm, um sie im Feuer zu härten.

      Plötzlich drehte der Obmann sich um und schaute Teri voll in die Augen. Mit zwei schnellen Schritten war er am Rand der Tribüne und beugte sich zu Teri hinab, die erschreckt einen halben Schritt zurückwich, mehr Raum ließ ihr die Menge in ihrem Rücken nicht.

      "Welcher Kerl soll mit den Schneckenschiffen fahren?", fragte Athan freundlich.

      Schlagartig wurde es Teri klar, dass er ihre halblaut ausgesprochene Bemerkung von vorhin trotz der Fanfaren sehr wohl gehört hatte. "Der, der dicke Raag", brachte sie zaghaft hervor. Tatsächlich war Raag auch in seinem dritten Jahr von keinem Kapitän gewählt worden. Er würde nie zur Schar gehören, Teri hatte es gewußt.

      "So, der dicke Raag also", stellte der Obmann fest. "Ja, du hast Recht. Raag wird auf einem Schneckenschiff anheuern müssen, wenn er zur See fahren will." Nachdenklich nickte der Mann zu seinen Worten. "Und du?", wollte er von Teri wissen. "Ich habe Dich beobachtet. - Du willst Scharfrau werden?"

      Auf einmal fiel alle Befangenheit von Teri ab. "Ja!" Trotzig schaute sie dem hoch über sie aufragenden Mann auf der Bühne in das Gesicht. "Ja, ich will Scharfrau werden! Und nicht nur einfache Scharfrau. Kapitän will ich werden! Kapitän des Flaggschiffs der Königlichen Flotte. Kapitän der `Diamant'!"

      Athan lachte laut auf. "So, Kapitän der `Diamant' willst du sein! Nun, das ist zur Zeit zwar mein Schiff, aber wenn Du so weit bist, können wir uns ja über meine Ablösung unterhalten."

      Teri spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Sie hatte das Gefühl, etwas unglaublich Dummes gesagt zu haben.

      "Sag mir deinen Namen", forderte Athan.

      Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an Teris Ohr. Leise gab sie Antwort. Sie schämte sich entsetzlich für ihre vorlaute Bemerkung.

      "Teri also!" Der Obmann richtete sich zu voller Größe auf und sprach nun lauter: "Deinen Namen werde ich mir merken, Teri." Fest schaute er das Mädchen an. "Erwarte nur die Zeit. - Du wirst mit den Schiffen fliegen!"

      Teri war es, als versänke die Welt um sie herum. Unsicher tastete sie nach der Brüstung vor sich. Sie würde mit den Schiffen fliegen! Der Obmann hatte es gesagt! Der Obmann hatte es versprochen! Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Sie hörte kaum noch, wie die Musikanten auf einer kleinen Nebenbühne begannen, eine schwungvolle, fröhliche Melodie zu spielen. Erst als die Paare anfingen, die Bühne zu stürmen und einen wirbelnden Tanz begannen, merkte sie, dass Athan schon lange gegangen war. - Sie würde mit den Schiffen fliegen. - Athan hatte es gesagt. - Das war mehr als ein Versprechen - das war eine Verheißung!

      Teri schaute sich um. Die ernste, erwartungsvolle Stimmung der Menge entlud sich nun in nahezu hektischer Heiterkeit.

      Eigentlich war es nichts Besonderes, dass die Zünfte im Schwalbenhafen ihren Nachwuchs bestimmten. Während der Herbstmonate gab es an jedem fünften Tag ein ähnliches Spektakel. Jeder Thedraner, der das zwölfte Lebensjahr vollendet hatte, konnte sich um die Aufnahme in einen Berufsstand eigener Wahl bewerben. Zu diesem Zweck ging er zu dem entsprechenden Obmann und trug ihm seinen Wunsch vor.

      Die Auswahl ging nach immer gleichen Kriterien vonstatten: Die Meister der Zunft wählten aus dem Aufgebot in einer Vorentscheidung ihre Lehrlinge aus. Die Namen der Gewählten wurden dann, im Beisein aller, öffentlich verlesen. Die abgewiesenen Bewerber konnten sich in den nächsten Jahren noch zweimal bewerben, dann waren sie gezwungen, sich einen Beruf niederen Standes zuweisen zu lassen.

      Jedes Mal gab es zu diesen Anlässen ein kleines Fest. Die Zünfte versuchten jedes Jahr, sich in ihren Anstrengungen zu überbieten. Selbst die Ziegenzüchter, der ärmste und verachtetste der mittleren Berufsstände, opferten jedes Jahr einige Tiere, um die Feiernden freizuhalten.

      Aber was war das alles gegen die wirklich großen Feste?

      Jedes Jahr, wenn die Schwalbenschiffe aus den Ländern der ganzen Welt in den Heimathafen zurückgekehrt waren, und die ersten Eisschollen vor dem Hafen auftauchten, wählten die Scharleute ihre neuen Mannschaften, gefolgt von den hohen Ständen der Schwalbenschiffbaumeister und der Kupferschmiede. Aber der Höhepunkt war und blieb das Fest der Scharleute, das Fest der fliegenden Schiffe.

      Laut klangen die Schellen und Trommeln der Musikanten über den Platz; eine junge Frau stand vorne auf dem kleinen Podium und sang mit heller Stimme ein Tanzlied. Schneller und schneller drehten die Tänzer sich im Kreis. Noch lauter wurde die Musik. Die Sängerin feuerte die Tanzenden zu immer neuen Anstrengungen an.

      Nun begann auch die Menge auf dem Platz zu wogen. Einige Paare begannen auch dort unten auf dem unebenen Platz zu tanzen. Händler hielten ihre Buden geöffnet und boten Speisen und Getränke an. "Heute alles auf Kosten der Schar!", schrien sie wieder und wieder. Kinder hielten Modelle fliegender Schiffe an langen Stangen über ihre Köpfe und bahnten sich johlend einen Weg durch die Menge, jedes auf einem anderen Kurs. Schmale seidene Bänder hingen von den Rümpfen herab und flatterten hinter den Modellen lebhaft hin und her. Jedes der Schiffchen war an den Seiten des Rumpfes mit einem Paar Möwenschwingen besetzt, die durch seidene Schnüre von den Kindern bewegt werden konnten.

      Mit offenen Augen träumend sah Teri eines der Modelle auf sich zukommen. "Du wirst fliegen!", hatte der Obmann gesagt. Teri träumte sich auf das Deck des Modells. Matrose Teri - Windmeister Teri, oder nein, besser noch Kapitän Teri. Wie gut sich das anhörte: Kapitän Teri, Scharfrau von Thedra, unterwegs in das Land der weißen Küsten, zum Volk der Rauchtrinker, Seide gegen Gold zu tauschen.

      "He, pass doch auf!" Das Schiffsmodell über Teri geriet plötzlich in harten Wind und drohte, von seiner Stange zu kippen. Der tatsächliche Kommandant, ein etwa achtjähriger, in feinste Stoffe gekleideter Junge, war gegen die träumende Teri gestoßen und dabei gestolpert. "Hau ab, Straßenköter!", fuhr der Knabe Teri an. "Den Weg frei für Kapitän Garsa und seine `Achat'!"

      Hastig brachte die so jäh entthronte Teri ihre nackten Zehen vor den schweren Holzschuhen des Rüpels in Sicherheit. Verächtlich sah sie ihm nach, wie er sich rempelnd und stoßend einen Weg durch die Masse bahnte. Eines Tages würde sie wirklich Kapitän sein, eine der ersten Damen des Staates, gleichgestellt einer Fürstin! - Dann würde es kein Mensch mehr wagen, so mit ihr zu reden. Sie würde die unverschämte Brut in Ketten legen und auspeitschen lassen! Gierig sah sie ihrem Widersacher nach. - Schade, dass es noch nicht so weit war.