Michael Stuhr

MICHAEL STUHRS FANTASY-DOPPELBAND


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Fleisches entgegen. Aber Teri hatte keinen Hunger, sie wollte sich lieber noch ein wenig umschauen.

      Mittlerweile war die Dämmerung herangekommen, und die ersten Fackeln wurden entzündet. Die Sängerin hatte zu einer getragenen Melodie ein zartes Liebeslied angestimmt. Obwohl sie nicht sonderlich laut sang, hing ihre helle Stimme wie eine alles umschließende Glocke über dem Platz. Nur ganz wenige, zumeist Angetrunkene, konnten sich dem Zauber dieses Klangs entziehen. Die Paare auf der Tanzfläche rückten näher zusammen, und auch auf dem Festplatz wurde eine Atmosphäre der Sehnsucht und der Zusammengehörigkeit spürbar, wie man sie nur ganz selten findet.

      Dann war das Lied zu Ende, und ohne auch nur einen Moment innezuhalten, fielen Sängerin und Musikanten in den wilden Rhythmus eines wüsten Saufliedes, dessen zahlreiche, versteckte Anspielungen Teri nicht ganz verstand.

      Teri ließ sich durch die Masse treiben, langsam wurde auch sie von der allgemeinen guten Laune angesteckt.

      Einige Händler hatten ganze Hände voll seltener Gewürze und Samenkörner in kleinen Feuerbecken entzündet. Gierig sog Teri das Aroma ein, das sich über den ganzen Platz ausbreitete.

      Weiter sank die Dunkelheit herab. Der kleine Ausschnitt des Himmels zwischen den hohen Felsen der Stadt war schon fast schwarz. Wie glosende Feuerbälle hingen die Fackeln in ihren Halterungen. Überdeutlich hörte Teri das Knacken des brennenden Holzes durch all den Lärm hindurch. Warm schimmerte das Licht der Öllampen aus den Tavernen rund um den Platz. Heiter und unbeschwert begann Teri sich im Takt der Musik zu wiegen. Plötzlich fühlte sie sich bei der Hand genommen und im Kreis herumgedreht. Ein etwa zehnjähriger Junge hatte sie einfach ergriffen und tanzte in wildem Wirbel mit ihr über den Platz. Lächelnd legte Teri den Kopf in den Nacken und ließ die Haare fliegen; der Tanz gefiel ihr gut.

      Plötzlich ließ der Junge ihre Hände los, aber schon wurde sie vom nächsten Tänzer aufgefangen und wie von einem starken Wind weiter über den Platz geweht. Weiter ging der Tanz. Die Musik war nur noch ein aufpeitschender, fordernder Rhythmus, die fliegenden Schiffe über Teris Kopf wurden zu einer auf bunten Seidenbändern dahinrauschenden Flotte. Teri jauchzte laut auf. Immer schneller wechselten ihre Tanzpartner sich ab. Knaben und Mädchen, Männer und Frauen wirbelten ihren Körper in immer wilderen Kreisen herum, bis sie sich schließlich, völlig außer Atem, mit wundgetanzten Fußsohlen, in den Winkel zwischen der Musikantentribüne und einer Taverne retten konnte.

      Angestrengt keuchend, vor Erschöpfung zitternd, kauerte sie sich in dem Mauerwinkel zusammen. Gerne hätte sie noch weiter getanzt, aber ihre Lungen, und speziell ihre Füße, machten einfach nicht mehr mit.

      Plötzlich brach die Musik mitten im Lied ab. Hoch über der Stadt lag ein Leuchten in der Luft. "Aganez' Feuer!", ging ein Raunen durch die Menge. "Aganez' Feuer!"

      Auch Teri sah hoch, zum Gipfel der Königsklippe hinüber. Selbstverständlich kannte sie die Geschichte von Aganez' Feuer, mit dem der greise Urvater der thedranischen Magier einst in stürmischer Nacht die Flotte der Fliegenden Schiffe vor dem sicheren Untergang gerettet hatte. Die Vorführung des Magischen Feuers war in jedem Jahr Höhepunkt und Schlußakkord des Festes.

      Vergessen waren Erschöpfung und wunde Füße. Aufgeregt sah Teri zu, wie das magische Leuchten von Minute zu Minute stärker wurde. Die Musik hatte wieder eingesetzt. Leise trug die Sängerin das Lied der Sturmflottenschar vor, besang die weiten Reisen, die fremden Häfen, die sternklaren Nächte auf See. Gerade war sie bei der letzten Strophe angekommen, die die Heimkehr mit reicher Fracht besang, als das Licht vom Gipfel der Zinne schon den ganzen Himmel ausfüllte und zu pulsieren begann.

      Taghell war es nun in den Schluchten von Thedra. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Menge. Immer schneller pulsierte das Licht, bis kaum noch ein Wechsel wahrzunehmen war. Einzelne Hochrufe wurden laut, andere Menschen auf dem Platz fielen ein. Die Sängerin beendete ihr Lied. Die Luft war von einem Schwirren durchzogen, als flögen Millionen von Schwalben über die Stadt hinweg - und dann explodierte der Himmel über Thedra in lautlosem, vielfarbigem, kaltem Feuer.

      Der Winter des Jahres dreiundzwanzig der Herrschaft Reos, König von Thedra und Estador, verlief für Teri in gewohnter Gleichförmigkeit.

      Wenn in den Monaten um die Wintersonnenwende die eiskalten Nordstürme durch die Straßen von Thedra heulten, wurden sämtliche Öffnungen der einzelnen Wohnfelsen mit schweren Holztoren hermetisch verschlossen. Lediglich schmale Türen führten dann noch ins Freie und nur kleine Abzugslöcher in den schweren Torbalken sorgten für den nötigen Luftaustausch.

      In dieser Zeit wurde ganz besonders auf die Einhaltung eines uralten Gesetzes geachtet, das besagte, jeder Bürger habe jeden Tag den Königsfelsen einmal komplett zu umrunden und dabei Hände und Gesicht ungeschüzt dem Tageslicht darzubieten.

      Das war nun aber ein Fußweg von gut eintausend Mannslängen und mancher Bürger fluchte laut über die lästige Pflicht, sich täglich klamme Finger und eine kalte Nase holen zu müssen. Aber die Wachen waren unerbittlich. So zog denn täglich eine unübersehbare, schimpfende, zähneklappernde, sich schneuzende Prozession ehrenwerter Thedraner um den Amtssitz Reos, bewacht von ebenso jämmerlich frierenden Aufsehern, die strengstens darauf zu achten hatten, dass nicht etwa jemand die Hände in die Taschen steckte.

      Dieser Erlass war allerdings keine besondere Demutsbezeugung vor dem Palast oder der Person des Königs. Vielmehr ging die Anwendung dieses Gesetzes schon auf Aganez, den legendären Magier, zurück.

      Die ersten Bewohner Thedras, die Verbannten, hatten sich, um zu überleben, in natürlichen Höhlen eingerichtet, welche sie nach und nach zu richtigen Wohnstätten ausbauten. Schon nach wenigen Jahren war es so weit gekommen, dass einige Handwerker und Kaufleute ihre Werkstätten und Kontore tief im Felsen so gut wie gar nicht mehr verließen.

      Aganez hatte nun beobachtet, dass diese Menschen überdurchschnittlich oft an Krankheiten litten, die bei Leuten, die öfter mal im Freien waren, nur sehr selten auftraten. Er hatte nach einigen Versuchen festgestellt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der besonderen Krankheitsanfälligkeit und dem Mangel an Tageslicht bestand.

      Besonders im Winter hatten die ersten Thedraner die Neigung gehabt, sich möglichst tief in ihre Höhlen zu vergraben. Und je besser sie sich zu schützen glaubten, umso schwächer wurden sie. Ständige Müdigkeit, Arbeits- und sonstige Unlust und Anfälligkeit für Infektionen aller Art waren ständige Gäste in der Höhlenstadt gewesen.

      Da Aganez damals schon ein sehr alter Magier gewesen war und schon lange aufgehört hatte auf die Vernunft der Menschen zu bauen, verlegte er sich nicht erst lange aufs Bitten und Beraten, sondern veranlasste den damaligen König, sofort die tägliche Pflichtwanderung um den Königsfelsen einzuführen.

      Der Erfolg hatte Aganez recht gegeben. Und wenn heute auch jeder Thedraner um den Sinn der kurzen Wanderung im Tageslicht wußte, so wurde das Murren davon doch nicht leiser. Ausgenommen von dieser Prozedur waren lediglich die Schwerkranken und die Neugeborenen, die in besonders witterungsgeschützten Höfen ihre tägliche Ration Tageslicht empfangen durften.

      Teri machten die täglichen Spaziergänge nichts aus. Meistens tollte sie mit den anderen Kindern übermütig herum und rutschte auf ihren strohgefütterten Holzschuhen die steilen Passagen des Weges hinab. Sie freute sich über das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen und versuchte, mit großen Schritten in den Spuren der Erwachsenen zu laufen. Schnee, wie herrlich! Man konnte darauf herumschlindern, Stücke davon aufheben und daran lecken, oder ihn zu leichten, sternchensprühenden Geschossen formen, die im Ziel in einer weißen Fontäne zerplatzten.

      Mindestens ebenso interessant fand Teri die Winterschule. Jedes Jahr im Winter wurden die Kinder des Formerfelsens drei Monate lang von einem Schulmeister intensiv unterrichtet. Teri mochte den Schulmeister. Geduldig lauschte sie seinen Ausführungen, stellte ihre Fragen und nahm sein Wissen in sich auf. Sie konnte nicht genug davon kriegen. Ungeduldig wurde sie nur, wenn ihre Mitschüler nicht ganz so schnell begriffen wie sie und der Stoff immer aufs Neue wiederholt werden mußte.

      Nach der Schule half Teri regelmäßig ihren Eltern in der Formerwerkstatt. Sie liebte die Arbeit mit dem kalten, glitschigen Ton nicht sonderlich, aber Teris Mutter hatte herausgefunden,