Michael Stuhr

MICHAEL STUHRS FANTASY-DOPPELBAND


Скачать книгу

sie zu der `Sesiol' herüber. Das Bewußtsein der Gefahr ließ Teri erschauern. Sie spürte, wie sich zuerst die Haut zwischen ihren Schulterblättern zusammenzog, bis sich auch die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. - Die Wachen wußten, woher die Spione gekommen waren. Sie behielten die Sesiol im Auge.

      `Spione'! Zum erstenmal ging Teri die Bedeutung dieses Wortes auf: Tana und Gerit waren nach Tigan gereist, um den hiesigen Handwerkern ihre Geheimnisse zu stehlen. Sie hatten zwar während der ganzen Fahrt oftmals darüber gesprochen, aber es war Teri eher wie ein Spiel vorgekommen. Nie hatte sie damit gerechnet, dass Tana und Gerit wirklich auf geheimen Wegen an die Formerhütten und Brennöfen heranwollten.

      Tigan war ihr wie eine Stadt in den Wolken vorgekommen. Ein Name, nicht mehr. Ein fernes Ziel, das niemals erreicht werden konnte. Und wenn doch? Na und? - Tana und Gerit waren unverwundbar gewesen. Hohnlachend konnten sie jeder Wache entwischen und allen Gefahren trotzen. Sie waren Spione gewesen. Die unschlagbaren Spione des Formerfelsens von Thedra.

      Die Wirklichkeit sah anders aus. Tigan war eine Stadt aus hartem Stein, und die Pfeile der Wachen waren nadelscharf. Tana und Gerit waren Menschen, ganz normale Menschen. Erschreckend verwundbar! Sie waren auf Wachen gestoßen, die sich auf ihr Geschäft verstanden. Vielleicht hatten sie fliehen wollen, aber es war umsonst gewesen. Ein Stein oder ein Schwert konnte sie getroffen haben, vielleicht auch ein Pfeil, und aus war es gewesen mit den unschlagbaren Spionen aus Teris Tagträumen. Ihr Blut war auf die Felder von Tigan getropft, und ihr Atem würde in der Südlichen Wüste versiegen.

      Nein, die Männer der `Sesiol' konnten nichts unternehmen. Ein Schritt auf den Kai war ein Schritt vor die Pfeilspitzen der Wachen. Tigan war Realität geworden. - Und es war härter als Stahl.

      Teri begann zu zittern. Mit der ganzen Kraft ihrer Hände krallte sie sich an der Reling fest, aber es wurde nicht besser. Ihre Beine gaben nach. Sie wollte sich nicht zusammenkauern, aber ihr Körper krümmte sich wie in einem Krampf. Sie wollte nicht weinen, aber die Tränen ließen sich nicht zurückhalten.

      Tigan! - Tigan war das steingewordene Trugbild, das Tana und Gerit zum Verhängnis geworden war. Sie waren keine unbezwingbaren Spione. Sie waren Menschen, die schon der Steinwurf eines Kindes verletzen konnte. Sie konnten nicht schneller laufen und nicht weiter springen als andere Menschen. Sie waren auf eine Übermacht gestoßen und hatten sich ergeben müssen. Der Traum ihres Lebens war böse ausgegangen, und die Reste davon hingen an den kalten Speerspitzen der Wachen.

      Schweigend schaute die Mannschaft auf Teri, die zusammengekauert auf dem Deck kniete und mit weit geöffneten Augen weinend in die dunkle Stadt schaute. Bei jeder Bewegung in den finsteren Gassen ging ein Ruck durch ihren Körper, so als würde sie immer noch darauf warten, dass ihre Stiefeltern, ihre Freunde, dass die liebsten Menschen, die sie auf der Welt hatte, doch noch auftauchen. - Dass sich alles als Mißverständnis, als ein grausamer Irrtum herausstellen würde.

      Die Wachen auf dem Hafenplatz verhielten sich ruhig. Sie hielten die `Sesiol' nur unter Beobachtung. Es sah nicht so aus, als solle heute noch etwas unternommen werden. Da nahm der Kapitän die sich schwach sträubende Teri in seine Arme und trug sie vor die Kajüte im Bug des Schiffes. Dort saß er den ganzen Abend über mit ihr und strich nur ab und zu sacht über ihr Haar.

      Später in der Nacht bewachte er ihren von leisen Schluchzern unterbrochenen Schlaf. - Und die ganze Zeit lang sprach er kein einziges Wort.

      Teri träumte.

      Sie träumte immer wieder von Tana. - Es war ein Alptraum.

      Es fing immer damit an, dass Tana, Gerit und sie auf der `Kao-lad' waren. Sie waren vergnügt und machten auf dem Deck allerlei lustige, hohe Sprünge. Tana sah Teris Mutter sehr ähnlich und auch der Großmutter, die den Tod ihrer Tochter nur um Tage überlebt hatte. Gerit war gleichzeitig er selbst, aber auch immer mehr Teris Vater.

      Immer höhere Sprünge machten die drei, bis sie überhaupt nicht mehr auf dem Schiff landeten, sondern direkt auf den Kontinent herabflogen.

      Weiter ging es mit Riesensprüngen nach Isco, wo sie ein Blutnebel aus dem Mund eines schreienden Mannes einhüllte. Entsetzt sprangen die drei weiter, aber nun waren ihre Kleider schwer von Blut und zogen sie herab.

      Immer kürzer, immer anstrengender wurden die Sprünge.

      Der Hafen von Tigan kam in Sicht. Wachen standen dort mit Speeren, die in den Himmel zeigten. Sie warteten auf die Spione. Die blutigen Kleider wurden immer schwerer. Wie Steine fielen die drei den Wachen vor die Füße.

      Tana und Gerit versuchten, zwischen den Wachen hindurchzugelangen, aber ihre blutnassen Kleider hinderten sie, klebten am Boden und ließen sie nicht vorwärtskommen. Die Wachen kamen mit gesenkten Spießen näher. Sie hatten es aber nicht auf Teri abgesehen. - Sie wollten die Spione.

      Tana und Gerit kämpften sich in ihren klebenden Gewändern weit vornübergebeugt Fußbreit für Fußbreit vorwärts. Da hoben die Wachen die Spieße, und von den grausamen Spitzen der Waffen durchbohrt, bäumten sich die beiden blutbedeckten Gestalten im Todeskampf hoch auf.

      Der stumme Todesschrei ihrer Stiefeltern, ihrer Eltern, mischte sich mit dem Entsetzensschrei Teris. Die Gesichter der beiden vermischten sich, wurden eines, wurden zu dem Gesicht des schreienden Mannes, aus dessen Mund ein Blutnebel schoß, der die ganze Welt mit der Farbe des Todes überzog.

      Das war jedes Mal der Moment, in dem Teri zitternd und schluchzend im Arm des Kapitäns erwachte. Tana und Gerit starben viele Tode in dieser Nacht, und mit jedem Traum starb ein Stück Hoffnung in Teri, die beiden jemals lebend wiederzusehen.

      Quälend langsam stieg das graue Licht des Morgens über den Horizont. Obwohl der Kapitän seinen Umhang um Teri gelegt hatte und sie fest an sich gedrückt hielt, zitterte sie erbärmlich.

      Langsam belebte sich das Schiff. Die Mannschaft, die am Abend schweigend und bedrückt schlafen gegangen war, erwachte nach und nach. Der Küchenjunge fachte das Feuer in dem Holzkohlebecken an und bereitete den Tee.

      Teri, die die Geräusche mit halbem Ohr hörte, preßte sich fest in den Arm des Kapitäns. Sie wollte nicht erwachen. Sie wollte weiterschlafen. Weiterschlafen für alle Zeiten. Jeder Alptraum, jeder Tod waren besser als der kalte graue Morgen in dieser feindlichen Stadt. Leben zu müssen, atmen zu müssen, denken zu müssen - das schienen ihr die schlimmsten Strafen zu sein. Leben zu müssen da die Freunde tot waren, die größte Qual.

      "Komm, trink etwas Heißes." Sacht bewegte der Kapitän seinen Arm, so dass Teris Kopf von seiner Schulter rollte.

      Teri schlug die Augen auf. Warm und verlockend stieg ihr der Duft des starken Honigtees in die Nase. Mit unsicheren, schlaftrunkenen Bewegungen griff sie nach dem Becher, den der Küchenjunge ihr scheu lächelnd reichte. "Danke!" Vorsichtig schlürfte Teri ein wenig von dem heißen Getränk. Es schmeckte gut.

      Später am Morgen, Teri ging es schon ein wenig besser, kam der Hafenmeister an Bord. Es war ein kurzer Besuch.

      Der Hafenmeister brachte den Befehl zur sofortigen Abreise für die `Sesiol' und alle, die sich auf ihr befanden. Des weiteren erteilte er Schiff und Kapitän für jetzt und alle Zukunft Hafenverbot. Zuletzt beschlagnahmte er das Gepäck der Spione.

      Um ihr Bündel behalten zu dürfen, mußte Teri es aufschnüren und vor dem Mann ausbreiten. Als ihr dabei ihre in Leder eingenähten Geldstücke in die Hände gerieten, erinnerte sie sich daran, dass sie Gerits letzte Anweisung nicht befolgt hatte. Sie hatte sich seinen Geldgürtel nicht genommen. Die Münzen im Wert von zehn Bronzestücken waren alles, was sie besaß.

      Sie bat den Kapitän, von dem Hafenmeister das Geld ihrer Eltern zu fordern.

      Der Mann lachte nur, als der Kapitän Teris Wunsch übersetzt hatte, ließ einen Gehilfen die Bündel aufnehmen und ging über die Laufplanke davon.

      Teri wollte protestieren, doch der Kapitän hielt sie zurück. "Wer mit dem Wolf um die Beute streiten will, der muß lange Zähne haben", zitierte er ein Sprichwort der Ver. Dabei zeigte er unauffällig auf den Hafenplatz hinaus, wo an die zwanzig Bogenschützen in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich leise unterhielten.