glücklich, du Langweilerin.“
Wie lange ist das schon her? Wie viele Tragödien sind seither geschehen, und immer noch sehnt sie sich nach ihren unerfüllten Träumen. Sie ist eine hoffnungslose Romantikerin, die leichtfüßig durchs Leben geht. Ein seelisches Punching- Band bewahrt sie davor, von Überforderung und Stress auf den Boden geschleudert zu werden. Ein Paradies bürgerlichen Alltagsrituals.
Irgendwann einmal ist sie aus dem Frust ins Surreale gekippt, stellte dadurch die bourgeoise Scheinheiligkeit an den Pranger. Ein menschlicher Prozess, der zum Positiven mutiert, hofft sie innig.
Der Traummann, ein Naturereignis
Jürgen Sandmann ist einundzwanzig. Seine Lehre als begabter Goldschmied hat er mit reichlicher Verzögerung abgeschlossen. Jetzt ist er auf dem Weg in ein neues Leben. Erstes Ziel, eine Reise in den Süden. Ein Traum seit Kindertagen. Höchste Zeit von zu Hause auszubrechen. Die Mutter, eine frustrierte, vom Ehemann verlassene Künstlerin, ist seit er denken kann auf der Suche nach neuen Vätern für ihren Sohn. Der leibliche Vater war schon vor seiner Geburt entsorgt worden, nachdem er versucht hatte seine schwangere Freundin kurzerhand vom Balkon des Mietpunkers zu stoßen. Wie durch ein Wunder überlebten beide. Mutters einziger Wunsch war, ihr Sohn sollte es einmal besser haben als sie.
Doch wie das Leben so spielt, Jürgen hat die Gene seines Vaters geerbt. Anstatt brav zu Hause zu büffeln, schwänzt er häufig die Schule. Später hängt er mit falschen Freunden ab. Dann und wann kifft er ein Tütchen, um die Scheiße zu ertragen, die ihm allerorts entgegen stinkt.
So verfrachtet er eines Tages seine dürftigen Habseligkeiten in einen klapprigen geliehenen Ford, fährt los. Eigentliches Ziel noch unbekannt. Nur die Richtung weiß er. Der sonnige Süden. Angenehmes Wetter. Fort aus dem frostigen Deutschland, wo es dauernd regnet und die Preise für Heizmaterial unerschwinglich sind.
Eine turbulente Reise mit jeder Menge Hindernissen. Erst verschwindet die hintere Stoßstange, in Folge sein Reisepass, den ein andere sichtlich dringender benötigte. Schließlich verliert er seine Hemmungen. Zu guter Letzt auch noch sein Herz an eine feurige Schöne, die ihn mit lasziven Schmeicheleien um sein kärglich Erspartes bringt. Der Notgroschen. Gerade mal genug, Benzin für die Rückfahrt zu tanken. Nach Hause will er nicht mehr, dazu ist er zu stolz. Doch eines weiß er mit Sicherheit. Er muss raus aus der Provinz, hinein in die pulsierende Großstadt.
Da steht er nun, mitten in Berlin, läppische zweihundert Mark in der Tasche, die er Gottlob noch auf seinem Sparbuch findet. Ein Nichts, unter Tausenden anderen Nobodys. Eine Adresse im Beutel, hochtrabende Pläne und ein tolles Aussehen. Eine Mischung von Präsens und Power.
Erscheint ihm auch zu Beginn Vieles unübersichtlich, eines steht fest: Er muss Fuß fassen. Und das tut er, schneller als er es sich je erträumt hat. Seine von Natur aus satanische Ader zieht die faulen Motten scharenweise an. Dank zwielichtiger Freunde findet er rasch Anschluss. Man feiert, kifft, besäuft sich solange die Moneten reichen.
Nach einigen wüsten Escarpaden lernt er sogar ein nettes Mädchen kennen. Das erste Date. Desaster pur. Er schleppt die zierliche Blondine auf die hinteste Bank eines Kinosaals, fackelt nicht lange, geht ihr brutal an die Wäsche. Mit gierigen, gefühllosen Händen packt er zu. Aus seinem Blick spricht Lüsternheit und Begierde. Sein unberechenbares Temperament. Brodelnder Zorn. Die plötzliche Explosion eines Vulkans in seinem Schädel. Er fühlt sich stark. Hysterisches Kreischen der völlig überrumpelten Kleinen hetzt ihm mehrere Kinobesucher an den Hals. Der kurzsichtigen Billeteuse entkommt er mit einem gewagten Sprung über drei Sitzreihen. Im letzten Augenblick entwischt er der Polizei.
Schweißtriefend hockt er reichlich angeschlagen wenig später im Hinterhof eines abgewrackten Hauses. Verfluchter Idiot. Glück hatte er bei all dem Missgeschick dennoch. In seinen Taschen schleppt er einige Tütchen Heroin mit sich herum, die das sichere Gelingen des Abends garantieren sollten.
„Das ist nun wirklich nicht der Beginn einer großen Karriere“, flucht er verzagt. Er will mehr, viel mehr. Die Welt aus den Angeln heben, Macht, Frauen, Geld.
Der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Ein Veranstaltungskalender der Stadt. Zielstrebig sucht er nach passenden Namen in der Schmuckbranche, erscheint in einen viel zu engen, geliehenen Abendanzug gezwängt, auf einer der nächsten Partys. Eine ultra konservative Krawatte als Krönung. Dennoch, der Grundstein für seine reichlich zweifelhafte Karriere ist gelegt.
Seit sich der Mensch vom Nasentier, das noch schnüffelnd auf Partnersuche war, auf zwei Beine erhob, zum Augentier wurde, fassen Männer ganz instinktiv Frauen ins Auge. Primärer Grund: kommt sie als Geschlechtspartnerin in Frage? Wäre das nicht so, gäbe es unsere Spezies wohl nicht mehr.
Berühmt war er nie, berüchtigt auf jeden Fall: Der männliche Blick. Jürgen hatte ihn. Zielsicher und kritisch zog er seine Gespielinnen mit leidenschaftlichen Blicken erst einmal aus.
Jetzt hat Jürgen eine ganz bestimmte Person ins Auge gefasst. Alexa von Breest, Tochter eines bekannten Juweliers aus Wien, millionenschwer, verwöhnt, selbstherrlich, egoistisch. Sie stellt diese Theorie in Frage, als sie den Traummann zum ersten Mal erblickt. Außergewöhnlich, impulsiv, drängend, voll Übermut und Lebensfreude. Pure Laszivität. Sie ist erregt. Der Körper pulsiert. Der Bauch zieht sich zusammen. Funken sprühen aus jeder Pore. Geil, maßlos geil. Das Zielobjekt, geballte Sinnlichkeit.
Alexa schlägt an diesem Morgen die Augen auf. Alles ist wie immer. Übliche Routine, auch heute. Genau wie gestern. So wie morgen. Jetzt plötzlich tritt das Unerwartete ein. Ein Abenteuer, für das es sich lohnt zu kämpfen. Eine Hoffnung, dieser trostlosen Langeweile für einige Stunden zu entkommen.
Sie bedrängt Papa mit Engelszungen, mitkommen zu dürfen nach Berlin. Eine Weltstadt, bedeutend interessanter als Wien, redet sie sich ein. Mit flehendem Augenaufschlag bekniet sie den alten Herrn, mit ihr diesen Ball zu besuchen. Jetzt weiß sie warum.
Fachkundig taxiert sie den Schönling. Sprühende Augen, hochgezogene Brauen, breite Schultern, knackiger Arsch. Eine Zehntelsekunde genügt. Geschlechtsrollenidentifikation positiv! Ihr Urteil ist gefällt.
Die Interpretation von Blicksignalen werfen im Allgemeinen kaum Probleme auf. Einschüchternd? Aufmunternd? Eine unmerkliche Vergrößerung seiner Pupillen, das Aufleuchten seiner Augen vertieft den Blick. Der attraktive Mann wird zum Spiegel, verstärkt ihre Überzeugung, unwiderstehlich zu sein. Diesen Mann kann man nicht besitzen, neben dem kann man nur sein. Und das werde ich, denkt sie einen Moment lang.
„Es ist längst nicht mehr das Privileg der Männer, mit den Augen den Partner abzutasten“, lacht Alexa kehlig, als sie sich ihm nähert, ein Glas Champagner entgegenhält. Ihr Entschluss steht fest. Dieser Mann gehört mir. Egal was er ist, woher er kommt, was er macht. Eine Frau in ihrer Preisklasse kann sich jeden Mann leisten, wenn er ihren Vorstellungen entspricht. Und das tut er, vom ersten Augenblick an.
Jürgen findet ihre Argumente unwiderstehlich. Eine sprühende Unterhaltung. Eine leidenschaftliche Nacht in einer traumhaften Hotelsuite. Diese Frau übertrumpft all seine Erwartungen. Ein Marathon der Lust. Perverse Praktiken werden zur Selbstverständlichkeit. Sie überbieten einander an Einfallsreichtum. Jürgens Liebesdiener macht ihm alle Ehre. Ein Prachtstück, mit ungeahntem Stehvermögen. Zwei Verdurstende, nach wilder Leidenschaft lechzend. Obszöne Sprüche. Wahnsinn. Betörendes Rauschen. Masochistisches Hinauszögern des Orgasmus, raffinierte Worte überschäumender Libido. Gekonntes Wechselspiel des Wann und Wie, seufzen, hecheln, sich verlieren und finden… sich hingeben… ganz im Liebesrausch verglühen... sich gegenseitig erfüllen… ein Taumel von Illusionen… hemmungslos, bedingungslos… kraftvoll in rasender Leidenschaft. In einem wilden Furioso übertrumpfen sie einander an perverser Anomalie. Befriedigung pur… sehr irdisch und doch himmlisch …
Eine wundervolle, aufregende Epoche.
Jürgen Sandmann nimmt Alexas Einladung nach Wien freudig an, setzt alles auf eine Karte. Es hat sich gelohnt.
Über den Dächern von Wien, dem blauen Himmel