Pit K

Semester of Love


Скачать книгу

werden. Mir kam es vor, als ob mich eine Kommilito­nin anspräche, so natürlich fragte sie das Unnatürliche: "Kommst du aus Deutschland? Bist du alleine? Willst du mit mir mitkommen?" Ich wollte schon, denn ich war in der Tat alleine, tat es aber trotzdem nicht.

      Dies alles kam mir nicht aus dem Sinn.

      Das war im August. Eine Woche Kurzurlaub im wilden Osteuropa. Natür­lich ohne Begleitung, da Intellektuelle alleine reisen. Nachmittags Kultur, abends, besser nachts, Neon- und Rotlicht.

      Danach Arbeit bei meiner Autovermietung, da das Abenteuer ein ordentliches Loch in mein schmales Budget gerissen hatte.

      Letzte Woche diese schwarzhaarige Anja Steinbach auf dem Kongress des Vereins für Social­politik. Das Zeremoniell wurde dieses Jahr in Münster abgehalten, und der ehren­volle Organi­sator war unser Institut für Finanzwissenschaften, das u. a. für mein Schwer­punktfach ÖV verantwortlich war. (Meine Diplomarbeit schlummerte im Moment auch dort.) Anja, einige andere und ich waren so eifrig und engagiert, freiwillig diese Veran­staltung zu un­ter­stützen. Als am zweiten Abend alles vorbei war und wir fleißigen Helfer uns über den üb­riggebliebenen Sekt hermachten, fiel mir Anja als sympathische Ge­sprächspartnerin auf. Lei­der verabschiedete sie sich zu schnell, und jetzt fragte ich mich, warum sie heute nicht an der Uni gewesen war.

      Bisher hatte ich mein loses Studentenleben genossen, doch in letzter Zeit kam in mir vermehrt die Assoziation der Annehmlichkeit eines geregelten Lebens empor. Warum nicht auch mal eine längere Beziehung? Schließlich wird der Mensch nicht jünger. Und dann die Nachexamenszeit. Bei einem Diplom-Volkswirt sollte das Privatleben geordnet sein. So nahm ich mir als letztes an diesem Tag vor, verstärkt nach einer adäquaten Part­nerin Aus­schau zu halten.

      Gewöhnlich weckten mich die Sonnenstrahlen, heute weckte mich das Telefon. Ein geziel­ter Blick durch den Nebel vor meinen Augen Richtung Wecker verriet mir, dass es 7.38 Uhr war. Für einen Studenten eine denkbar undankbare Zeit, für meinen Arbeitge­ber die achte Dienstminute. Grund genug, das lästige Geräusch aus der Gegend meines Telefons zu ignorie­ren. Dieses war aber nicht ignorierbar, jedenfalls nicht nach der 14. Wiederholung. Mögli­cherweise etwas Wichtiges: "Hoffentlich ist niemand gestorben", dachte ich und nahm ab.

      "Bist ja doch zu Hause, warst bestimmt noch am schlafen, deshalb habe ich auch so­lange schellen lassen", meldete sich Paule, der Disponent meiner Autovermietung.

      "Ich bin gerade vom Bäcker reingekommen und hab im Flur das Schellen gehört. Eben noch rechtzeitig dran gewesen. Was kann ich denn für euch tun?"

      "Zeit?"

      Literaturlisten, Bibliotheken, Copyshops, Übungsaufgaben, Arbeitsgemeinschaften und die guten Vorsätze vom Vortag dominierten die Koordination meiner Gedanken. Ich hatte keine Zeit, ich musste zur Uni.

      Leider sagte man mir des Öfteren (und dieses nicht immer ohne Grund), dass ich nicht "nein" sagen könne. Ich konnte aber doch, und das würde ich jetzt beweisen.

      "Um was geht es denn?" fragte ich lediglich aus Neugier.

      "Der 55er muss heute nach Leipzig. Wenn du in einer halben Stunde da bist, ist das deine Tour."

      Ich konnte doch nicht "nein" sagen. Die Nummer 55 war nämlich die firmeninterne Be­zeichnung für den Mercedes 300 SEL, und eine Fahrt nach Leipzig würde bei der vor­aussicht­lich etwas kürzeren Fahrtdauer eine nette Pauschale einbringen.

      "Ok! Ich bin in 25 Minuten da."

      Dank meines Renault 5 Alpine Turbos, dem etwas studentenuntypischen Fahrzeu­ges, das mir sehr ans Herz gewachsen war, befand ich mich nach einer Viertelstunde vor Ort. Vergessen waren die Literaturlisten und anderen Lästigkeiten. Paule, der ei­gentlich Paul Brinkkötter hieß, drückte mir meinen Fahrauftrag und die Wagenschlüssel in die Hand. Da­zu die Bemerkung, mich beeilen zu müssen, da die Herrschaften in Leipzig das gute Stück bis 14.00 Uhr benötigten.

      Ich hatte weder eine konkrete Vorstellung von der mich von der dortigen Station tren­nenden Entfernung, geschweige denn, dass ich wusste, auf optimalem Wege dahin zu ge­langen. Zweiteres ließ sich schnell durch die firmeneigene Deutschlandkarte klären, auf der sämtliche Autobahnen und Bundesstraßen eingezeichnet sind. Das erste Pro­blem blieb Problem, insofern ich erfuhr, dass meine Rückreise mit einem 7,5 Tonner stattfinden würde und zwischen Abfahrt und Ankunft fast 1000 km lagen. Ich erinnerte mich daran, am Abend bei Esther auf ihrer Geburtstagsparty eingeladen zu sein.

      Also Grund, sich zu beeilen. Ich verzichtete, die an einen Zahnarztstuhl erin­nernde elektronische Sitzeinstellung auszuschöpfen und fuhr los, obwohl die Kopf­stütze in ei­nem relativ unbequemen Winkel stand. Nach zweimaligem Abbiegen befand ich mich auf der A 43, von der ich nach vier Kilometern am Kreuz Münster Süd auf die A 1 wech­selte. Meine 148 kW nützten mir bis zum Kreuz Dortmund/Unna genauso wenig wie mein linker Blinker und die Lichthupe, über 170 stieg die Tachonadel nicht. Zeit für Esther und das Autote­lefon, das ich unter der mit Wurzelholz verzierten Mittelkonsole fand und norma­lerweise wegen der Kundenabrechnung gar nicht benutzen sollte. Ich wählte ihre Num­mer und wartete. Sie nahm tatsächlich ab, obwohl es erst viertel nach acht war. Sie kam gerade aus der Dusche, war nur mit einem Handtuch bekleidet und hatte tropfnasses Haar, was ich gerne selbst gesehen hätte.

      Vorsichtshalber entschuldigte ich mich für mein vermutlich späteres Eintreffen am Abend. Ich sei beruflich unterwegs und hätte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Ich käme auf jeden Fall vorbei.

      Außerdem fiel mir ein, Harald Köhler absagen zu müssen, der bei mir im Nachbar­wohn­heim wohnte und mit mir mitfahren wollte. Ich fragte, ob sie so lieb sei, mir das ab­zunehmen, da ich im Dienstwagen säße, weder seine Nummer auswendig wüsste, noch Zettel und Stift in greifbarer Nähe wären, und ich das Telefon normal von Rechts wegen her gar nicht privat benutzen dürfte.

      Sie grunzte.

      Ich sagte: "Danke, bis nachher", und legte auf.

      Esther konnte ich gut leiden, obwohl sie mich überall als ihren Cousin vorstellte, ohne in Wirklichkeit meine Cousine zu sein. Mein Onkel hatte sie vor etlichen Jahren adop­tiert. Sie studierte BWL und steckte in der Vorbereitung ihrer mündlichen Prüfungen. Ich fand es verwunderlich, dass sie dabei Zeit fand, ihren Geburtstag zu feiern.

      Harri war VWLer, und im Sommer hatten wir uns bei meinen ersten bzw. seinen letzten Klausuren ergänzt. Über mir nie vollkommen klar gewordene Kanäle war er mit Es­ther gut bekannt. Anfangs, bis er seine Corinna kennengelernt hatte, hatte ich sogar den Ein­druck, dass er gerne noch näher mit ihr bekannt gewesen wäre.

      Mittlerweile war ich auf der A 44, die aufgrund des geringeren Verkehrsauf­kommens eine brauchbare Geschwindigkeit erlaubte. Kurz nach Unna durchbrach ich die 200-Mauer und flog, auf meine Ledergarnitur gepresst, an den Orten vorbei, die mir aus mei­ner Kindheit vertraut waren. Kurz hinter Soest, an der Auffahrt Geseke, wollte eine nicht mehr allzu junge Golffahrerin so nett sein und den Einbiegern ein leichtes Einfädeln er­mögli­chen, weshalb sie auf die Überholspur wechselte. Leider übersah sie mich dabei. Das war sehr schade, weil ich mich gerade über die Erreichung der vermeintlichen Höchstgeschwindig­keit von 245 km/h freute und diese Freude einige Zeit genießen wollte. Stattdessen wurde ich einem massiven Reaktionstest unterzogen. Dafür erlebten die unblockierbaren Bremssysteme meines Stuttgarters Raumschiffes ihre Sternstunde. Die Trägheit der Masse besorgte, dass die Schnauze meines Fahrzeuges sich ruckartig soweit nach unten neigte, dass ich dachte, das auf dem Kühler thronende Firmenemblem würde sich mit dem As­phalt vereinigen. Ich erahnte das Geräusch von aufeinanderpral­lenden Blechen und sah einen Luftballon zwischen mir und Lenkrad sich aufpusten. Mein Blick huschte nach rechts. Dort war alles frei. Ich ließ das Bremspedal los und zog das Lenkrad so gefühl­voll wie möglich herüber. Jetzt fingen die Reifen doch an zu quiet­schen, und ich fühlte mich in meinem Polstersessel auf einmal sehr unwohl. Sofort lenkte ich wieder gegen und blieb, derbe schaukelnd, geradeaus fahrend auf der rechten Spur. Hier erlaubte ich mir, die Golffahrerin mit einem nicht ganz freundlichen Seitenblick zu überholen.

      Nach diesem Zwischenfall ging es wieder auf der Überholspur weiter. Als Vorsichts­maß­nahme schaltete ich die Scheinwerfer ein. Mit meinen eineinhalb