Pit K

Semester of Love


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meines Tele­fons möglich geworden war, eine meiner letzten rational nachvollziehbaren Handlungen der gestrigen Trauerfeier.

      Der Arbeitstag brachte nicht die erhoffte Ablenkung. Meine Examensnöte drehten sich mit dem Restalkohol um die Wette. Meine Dienstgespräche mit Michaela Assmann und Christoph Mattern steigerten meine Melancholie. Beide erfreuten sich einer 1,7. Wie Volker Steinhoff abgeschnitten hatte, wollte ich nicht mehr wissen. Sogar Paule merkte, der unter Insidern als waschechter Choleriker gehandelt wurde (ein tieffliegendes Telefon soll den Vogel mal abgeschossen haben), dass ich nicht bei der Sache war und meinte wohlwollend, mich am frühen Nachmittag entbehren zu können, wobei ich redlich be­müht war, meine Weinbrandfahne zu vertuschen.

      Ich wurde magisch angezogen von den ehrwürdigen Hallen unserer Uni. Den restli­chen Nachmittag verbrachte ich in Bibliotheken und Copyshops und kehrte erst spät abends schwerbeladen mit wertvollen Büchern und Bänden sowie seltenen Aufsätzen und Abhandlungen nach Gievenbeck zurück, wo ich eine Metamorphose in einen braven Ex­aminanden durchlebte.

      Kapitel 2 Graue Herbsttage

      Ich stand vor meinem Fenster und schaute gedankenversunken auf die Skyline der östlichen Stadtteile Münsters. In meiner Hand eine Tasse mit schwarzem Kaffee. Es war einer der letz­ten warmen Oktobertage und die Sonne schien direkt in mein Zimmer. Es war ein schöner Tag.

      Gleich musste ich los, denn heute war Dienstag, Seminartag, der einzige Tag in der Woche, an dem etwas auf meinem Stundenplan stand. Es war genau eine Woche her, als ich mit meiner abgetragenen Lederjacke und einer verwaschenen Hose direkt von Paule Wagenpark in den Hörsaal einzog. Seitdem war eine Menge passiert, wovon im Moment am wich­tigsten war, dass sich das große Mysterium "Examen" allmählich zu konkretisie­ren begann. In stundenlanger Fleißarbeit hatte ich sämtliche Einzelheiten analysiert, alle Eventualitäten kalku­liert, jegliche Unvorhersehbarkeit berücksichtigt und glaubte nun zu wissen, was auf mich zu­kam:

      An Kompliziertheit unübertroffen war die Wifipo-Klausur. Nicht weniger als vier Profes­soren tummelten sich auf der Wiese der Aufgabensteller. Die Spielleitung Prü­fungsamt war so nett gewesen, diese zu Zweiergespannen zusammenzufassen, was sehr studenten­freundlich war, da man sich bloß für eines dieser Gespanne zu entscheiden brauchte. Meine Wahl stand fest. Aufgrund langjähriger Zusammenarbeit präferierte ich, trotz meiner in diskriminierender Weise verkannten Hausarbeit, das Institut für Finanz­wissenschaften. So gelangte ich intelligenterweise in den Genuss von Skaleneffekten zum Fach ÖV. Dabei nahm ich die Kupplung mit den Verkehrswissenschaftlern und den wei­teren Kontakt mit dem mir nicht so sympathischen Herrn Dr. Fecht in Kauf, inklusive seines Chaosseminars. Ein weiterer Plus­punkt dabei war nämlich das ausgesprochen reichhaltige Stoffangebot, man wollte schließlich nicht dümmer als nötig sterben.

      Es handelte sich um für den unwissenden Probanden ohne erkennbaren Zusammen­hang zusammengewürfelte 12 Einzelthemen. Keines mit weniger als 100 Seiten auf der Literaturliste bedacht. Von Studentengruppen zu erarbeiten, weil das Fechti die Arbeit ersparte. Am schönsten an dieser Kombination war, dass zu dem absoluten Spitzenreiter im quantitativen Bereich (was unter dem Wissensdrangargument als positiv zu bewerten war) eine fast lapidare Aufgabenstellung der Finanzwissenschaftler hinzukam.

      Hier kursierten drei Entwürfe von Gliederungsschemata mit ungefähr je zwanzig Ord­nungseinheiten mit deren Hilfe zu einem aktuellen Thema ein Sta­tement abzugeben war. Das war einfach. Man brauchte nur die 60 Punkte auswendig lernen, täglich FAZ, Han­delsblatt, Süddeutsche, wöchentlich Zeit und Welt lesen, und dazu nicht einmal 500 Sei­ten parat haben. Die Hälfte dieser unbedeutenden Seitenzahl war vermutlich so­gar für ÖV relevant, was momentan aber nicht sicher war, da eine Literaturliste für dieses Fach nicht existierte. (Ich mutmaßte, dass die Erstellung von zwei Listen in so kurzer Zeit für ein Universitätsinstitut bei der dort zu bewältigenden Aufgabenvielfalt ein unlös­bares Problem darstellte.) Auf jeden Fall erschien die Verbannung jeglichen Finanzstoffes in die Ferne eine geeignete Taktik zu sein, zumal sich dessen Bearbeitung ohnehin in den Ar­beitsgemeinschaften anbot, von denen bislang keine angelaufen war.

      Die andere große, unter dem Stichwort AVWL laufende, Herausforderung war äu­ßerlich wesentlich unspektakulärer, dafür inhaltlich umso komplizierter. Hier hatte das Themenstellerpärchen wahrhaftig ein gemeinsames Seminar zustande gebracht. Zumin­dest waren für die nächsten Wochen an bis zum heutigen Tage unbekannten Terminen vier Veranstaltungen geplant, in denen exemplarisch Fallbeispiele gerechnet werden sollten. Wahrscheinlich befürchteten die Verantwortlichen ohne diese Hilfestellung von den Lösungen der Aufgaben zu sehr deprimiert zu werden. Trotzdem beeindruckend.

      Eventuell empfahl sich als Beigabe die Vorlesung, der ich letzte Woche als erstes bei­gewohnt hatte. Da aber die außerordentlich gewissenhaft arbeitende Frau Assmann sich für die Teilnahme daran entschlossen hatte, und es mir beim letzten Mal recht langweilig geworden war, hielt ich es für konsequent, dem Ganzen fernzubleiben. So konnte ich heute Morgen die gesparte Zeit gleich in die Bearbeitung der ersten 50 der insgesamt 1500 AVWL-Seiten investieren.

      Nun wartete Meister Fecht auf mich, und ich machte mich frohen Mutes auf den Weg. Weil es draußen so schön war, entschied ich mich für das Fahrrad, die Tour dau­erte nicht viel länger als die Busreise. Ungefähr nach einer halben Stunde war ich am Hör­saalge­bäude am Stadtgraben. Diesmal so rechtzeitig, dass ich mich neben Michaela setzen konnte, die ich über die Inhalte der vorangegangenen Vorlesung ausfragte, an der ich selber ja so gerne teilgenommen hätte.

      Die folgenden 90 Minuten waren dank ihrer Nähe erträg­lich. Diesmal bekam ich ein Fisherman’s Friend! Nahezu unerträglich war der mich etwas beschämende Umstand, als einziger verschlafen zu haben, dass nicht wie angegeben die externen Effekte sondern die natürlichen Monopole erörtert wurden. Ich hasste Unwissenheit, umso mehr bei Sachen, die ich eigentlich wissen musste. Mein Stundenthema war deshalb, meine Ahnungslosig­keit bezüglich dieser Monopole zu verbergen.

      Nach dem Seminar versammelten wir uns, die wir durch das Wahlfach ÖV und die Ex­amenstermine miteinander verbunden waren. In der näch­sten Woche würden Christoph Mattern, Volker Steinhoff, Martin Haim und ich be­ginnen, die Verfassungstheorien zu beleuchten. Darauf die anderen 11 Themen und dar­auf die drei Gliede­rungsschemata. Michaela würde damit in den nächsten Minuten begin­nen, da sie schon verschwunden war. Bettina Claas wollte wenigstens ihren Informati­onsstand bezüglich ÖV ausdehnen, weshalb sie mich beiseite zog und Richtung Institut für Finanzwissenschaften schob.

      Als zuständig erwies sich ein Assistent namens Stefan Korte, mit dem ich aufgrund meines Engagements für dieses Institut sehr gut bekannt war. Glücklicherweise blieb mir Kol­lege Schwarz erspart, der mir seit der Betreuung meiner Hausarbeit, nett ausge­drückt, ein Dorn im Auge war.

      Herr Korte war der Ansicht, dass wir uns nicht verrückt machen las­sen sollten. Er hätte sich mit dem Problem Klausur bisher gar nicht beschäftigt, wollte das zwar in den nächsten Wochen tun, aber bis Ende Februar wäre ja Zeit. "Oder?" vergewisserte er sich. Ihn interessierte vielmehr ob Bettina und ich eine Arbeitsgemeinschaft bildeten und warum Martin Haim nicht dabei war, der seines Wissens dritter im Bunde wäre.

      Aus Bettinas Mund sprudelte zu der ersten Frage ein entschiedenes "ja", zu der zwei­ten die energische Feststellung, dass Martin sich alleine vorbereiten wollte, wovon ich das erste Mal in diesem Moment hörte.

      Als wir beide wieder draußen waren, begann sie sich über Korte aufzuregen. Beson­ders unverschämt fand sie, dass er nicht einmal den Klausurtermin kannte. Außerdem hätte er schlechte Manieren. Als sie vor kurzem bei ihm war, hätte er ihr nicht einmal einen Stuhl angeboten. Ich meinte, dass ich gewöhnlich sogar einen Kaffee bekäme. Auf jeden Fall hätte es den Kasper überhaupt nicht zu interessieren, wer mit wem zusammen lernt.

      Auf dem Weg zu unseren Fahrrädern, die zufällig nebeneinander standen, fingen wir beide an zu lachen. Ich hätte sie jetzt gerne auf eine Tasse Kaffee eingeladen, aber sie hatte es eilig.

      "Vielleicht später", lächelte sie und fuhr los. Dabei fand ich sie mit ihren Sommer­sprossen richtig niedlich.

      Am nächsten Tag mischte ich mich unter eine wilde Horde