Pit K

Semester of Love


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Teil Deutschlands führende A 4 war eine für meine Nobelkarosse weniger geeignete, vorsint­flutliche Schlaglochstrecke. Auf den schmalen Spuren bekam ich regelrecht Platzangst.

      Am Rasthof Herleshausen entschied ich mich für einen Boxenstop. Sicherheitshal­ber tankte ich 79 Liter nach, um nicht kurz vor Leipzig ein weiteres Mal pausieren zu müs­sen. Nach 362 km war mein Tank wieder voll. Außerdem hielt ich es für notwendig, an diesem Tag mit der Nahrungsaufnahme zu beginnen.

      Das nach einem leichten Druck auf den Schlüssel rot leuchtende Lämpchen an der Türver­riegelung verriet mir, dass ein Öffnen für Unbefugte während meiner Brotzeit nicht möglich war. Schlösser, in die man Schlüssel steckte, waren ja mehr etwas für Mittel­klassewa­gen.

      Als ich nach keinen 15 Minuten wieder kam, wartete ein in einer unmöglichen Farb­kombination gekleidetes Subjekt mit Dreitagebart auf mich. In einem fremdartigen Ak­zent (angeblich holländisch, meines Eindruckes nach mehr osteuropäisch) versuchte er mir ver­ständlich zu machen, dass ihn interessiere, ob es sich bei dem Mercedes um mei­nen handelte. Da die grünweiße Wagenmappe mit fett gedruckter Firmenbezeichnung auf dem Beifahrersitz lag, war es für einen Menschen mit einem Hauch von analytischem Denkvermögen nicht schwer zu erraten, dass es sich um einen Mietwagen handelte. Ich war mir zwar nicht sicher, ob mein Gegenüber diesen Rückschluss gezogen hatte, wollte ihn jedoch nicht unterschätzen. "Jedenfalls bin ich im Besitz des Schlüssels", antwortete ich überlegend grinsend.

      Der bunt gekleidete Vogel machte mir darauf ein einmaliges An­gebot. Ich sei der Auserwählte für den Kauf eines echten Silberbesteckes, von allerhöchster Qualität, bei dem es sich sogar um ein Erbstück handele. Ich müsse lediglich eben zu seinem LKW mitkommen.

      Mein Kopf verspürte wenig Lust auf Kontakte mit Wagenhebern oder ähnlichen In­strumen­ten, außerdem durchbohrte mich Paules strafender Blick beim Ausfüllen einer Dieb­stahlmeldung.

      "Ich bin nicht allzu kultiviert und esse gewöhnlich mit den Fingern", tat ich ihm kund. Dabei öffnete ich unbemerkt mit meinem Zauberschlüssel aus der Tasche heraus die Tür.

      Als nächstes schob ich den etwas irritierten Menschen mit einem sanften Stoß beiseite. Bevor der Clown eine Reaktion zeigte, die über ein dümmeres Gesicht als bisher zu zie­hen nicht hinaus kam, trennte uns eine verriegelte Tür. Ich ließ den Motor starten, hob meine Hand zum Abschiedsgruß und beeilte mich, den Ort dieses Geschehens zu verlas­sen.

      Gegen halb eins passierte ich das Leipziger Ortsschild. Unser Stationsver­zeichnis wies mich zum Übergabepunkt in die Bahnhofsgegend. Der Wagentausch sollte reine Formsa­che sein. Doch diesmal war ich viel zu spät. Der Kunde hatte laut Leipzig zu 13.00 Uhr reserviert. Paule war also ein Schwätzer, und viel schlimmer, die Wagenwäsche war nun unmöglich, aber woanders gab es so schnell keine S-Klasse, also egal.

      Ich gönnte mir eine Mittagspause. Für Esther besorgte ich ein mit einer gel­ben Lilie verziertes Fläschchen Chanel No. 5. Darauf bestieg ich meinen nächsten guten Stern, der mit glatten 7,5 Tonnen wesentlich größer als der erste war. Ich legte eine Tachoscheibe ein und er­rechnete durch Division von 500 km durch 80 km/h, dass ich in 6,25 Stunden in Münster sein müsste. Also konnte ich Harri mitnehmen.

      Nach einer Orientierung auf meiner Karte mit den Autobahnen und Bundesstraßen entschloss ich mich, den Weg über Hannover auszuprobieren. Dieser schien kürzer zu sein. Den Umstand, dass zwischen Halle und Magdeburg (fast 100 km) eine einfache, re­lativ dicke Linie mit der Bezeichnung B 71 eingezeichnet war, nahm ich gelas­sen hin. Gesetzliche Bestimmungen fixierten mich sowieso auf eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h.

      Nach dem dritten Hinweisschild mit dem Text "Umleitung" wurde mir klar, dass ich eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Ich lernte idyllische Dörfer mit Kopfstein gepfla­sterten Straßen kennen, in denen ich mir gut Meister Lempel als Dorfschullehrer und die Witwe Bolte mit ihren Hühnern vorstellen konnte. Leider begegneten mir fortlaufend postsozialistische Erntefahrzeuge, bei denen ich mich des Verdachtes nicht erwehren konnte, dass diese meine rasche Heimkehr sabotieren wollten. Recht schnell bildeten wir, ein Tanklastzug aus Ham­burg, ein Kleintransporter aus Halle und ein Schwertransporter aus Irgendwo, der die unüber­holbare Spitze innehatte, eine Kolonne, die nach geschlage­nen drei Stunden Magdeburg er­reichte. Als ich den blauen Pfeil mit der Aufschrift Han­nover an der Auffahrt zur A 2 sah, dachte ich zu wissen, was Columbus auf der Santa Maria 1492 empfand, als der wachhabende Matrose rief: "Land in Sicht."

      Um viertel nach neun geschah das Unfassbare. Ich kam in Münster an. Auf meinen Fahrauftrag schrieb ich 0.15 und beeilte mich, mit meinem Turbo-Fahrzeug nach Hause zu kommen. Blitzartig verwandelte ich mich in einen dynamisch gestylten Repräsentanten der Fachschaft Wirtschaft, den es auf die Geburtstagsparty seiner Cousine zog.

      Die elitäre Runde aus überwiegend angehenden oder seit kurzem diesen Titel füh­ren­den Diplom-Kaufmännern und Frauen hatte bereits ohne mich ihren Lauf genommen und hätte das auch problemlos weiter tun können.

      Esther freute sich, dass ich es ge­schafft hatte, ich freute mich, dass ich nicht vergessen hatte, ein Geschenk mitzubringen, und Harald nörgelte, mit Corinna in seinen Armen, dass er seine Anreise von dem einen zum anderen Ende der Stadt selbständig managen musste. An meinen Vorsatz vom Vortag mich erinnernd (den mit der adäquaten Partne­rin), schaute ich mich um. Pech gehabt. Die meinen op­tischen Präferenzen genügenden Da­men hatten alle jemanden gefunden, zumindest für diesen Abend. Also beschäftigte ich mich primär mit den alkoholischen Getränken. Eine frischgebackene Unternehmensbera­terin mit über 80 Bewerbungen klärte mich über die Hoffnungslosigkeit des Arbeitsmark­tes und die Ver­zwicktheit der ersten Woche im Unternehmen auf. Leider entsprach sie nicht meinen Präferenzen.

      Nachdem sich die Dauer meines Aufenthaltes auf über vier Stunden ausgedehnt hatte und die Palette der Getränke durchprobiert war, überfiel mich eine Welle der Müdigkeit. Ich wollte nach Hause. Mich außerstande sehend, mein eigenes Fahrzeug zu lenken, über­zeugte ich Harald davon, mich mitzunehmen. Er hatte sich ja extra ein Auto gelie­hen.

      Irgendwann zwischen drei und vier Uhr erreichte ich schließlich mein Bett.

      Dieses war der erste Vorbereitungstag meiner zweiten Examenshälfte.

      Am nächsten Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen, allerdings nicht die ersten. Neben dem grellen Licht beeinflusste die Vorstellung meines bevorstehenden Rendezvous mit der No­tenliste der Diplomarbeiten meine Empfindungen. Das unangenehme Gefühl eines steigenden Adrenalinspiegels überkam mich. Ich hasste Ungewissheit, insbesondere die letz­ten Minuten vor unheimlichen Begegnungen, wie sie mir heute bevorstanden. Glücklicherweise hatte ich wegen des gestrigen Alkohols eine angenehme Nacht gehabt. Jetzt war mir nach neuer Medizin zumute. Um den Zahnpastageschmack loszuwerden, trank ich einen Korn. Eine kalte Dusche regte meinen Kreislauf an. Zehn Minuten später saß ich in der Buslinie 11, in der mir einfiel, dass ich mein Auto, das ich eben gesucht hatte, bei Esther zurückgelassen hatte.

      Zwei Stationen später stieg Christoph Mattern hinzu, der ebenfalls in Gievenbeck wohnte. Breit grinsend fragte er, ob ich auch auf dem Weg nach Canossa sei. Ich bot ihm höf­lich an, im Gefolge Heinrich IV. Platz zu nehmen, und wie es sich für echte Büßer gehörte, schwiegen wir uns bis zum Prüfungsamt an.

      Vor dem ehemaligen Krankenhaus, das in die Verwaltung der Fachhochschule und in unser Prüfungsamt umfunktioniert worden war, herrschte Aufruhrstimmung. Ein Schild ver­kündete, dass vor 15.00 Uhr nicht mit den Noten zu rechnen sei, weil eine juristisch un­entbehrliche Unterschrift fehlte. Christoph und ich entschieden uns für einen Kaffee bei Bölling.

      Die meisten Worte entpuppten sich als Stimmungstöter. Dennoch entlockte ich ihm, dass er im Sommer einige Divergenzen mit Karin hatte, seinem nun ausgetauschten Frau­chen. Die mir vom Telefon bekannte Andrea Reimann aus Reutlingen sei seit längerem bei ihm zu Besuch. Ansonsten saßen wir uns gedankenversunken gegenüber. Eine merk­würdige Atmosphäre. Die mit uns am Tisch sitzenden Noten verschnürten unsere Keh­len.

      Wir zogen den Gang unserer eigenen Wege vor, die mich zu mei­nem Auto führten. In tiefer Meditation versunken, durchquerte ich das Juridicum (unser Fach­bereichsgebäude) über den sogenannten Jesuitengang, der mich zum Domplatz führte.