Dinge, die deine Mutter verpönte, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie nicht wollte, dass du mich weiterhin besuchen kommst.
Gut, leider bist du ihrem Ruf gefolgt.
Schade, denn ich hätte dich so gerne noch einmal gesehen.
Aber Dinge sind, wie sie sind, und man kann die Zeit nicht zurückdrehen, ungenutzte Möglichkeiten nicht neu nutzen, noch bekommt man die Chance, sie nochmals in die Gegenwart zu bringen. Leider.
Doch Schluss mit diesem Blablabla.
Ich habe nur noch wenig Zeit und sollte sie nicht damit vergeuden, indem ich in Vergangenem wandle.
Für mich ist es an der Zeit, mich von der Welt zu verabschieden. Allerdings nicht für immer, wenn alles so kommen wird, wie ich glaube, dass es geschehen kann. Was ich damit sagen will, das wirst du mit Sicherheit bald erfahren.
Da mir niemand, außer dir, einfällt, dem ich mein geliebtes Haus vererben will, möchte ich, dass du mein Erbe, der Erbe meiner weltlichen Güter sein sollst.
Wenn dir dieser Brief überbracht werden wird, habe ich schon das Zeitliche gesegnet.
Hätte ich nochmals die Chance, ich würde zu dir gekommen sein, wenn du schon nicht den Weg zu mir finden konntest.
Doch diese Chance haben wir wohl beide vertan.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir eine gute, zufriedene und glückliche Zukunft zu wünschen.
Wenn du mein Haus siehst, urteile nicht gleich nach dem ersten Eindruck, denn es ist ein sehr besonderes Haus und hat seinen eigenen Charme. Es ist so besonders, wie ich, sicherlich, auch immer irgendwie, auf die eine oder andere Art, besonders, vielleicht etwas anders, gewesen bin.
Etwas anders als die anderen, eben ich.
Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis auch du seinem Charme, dem Charme des Hauses, erliegen und das Besondere, das es umgibt, in ihm wohnt, kennen lernen wirst.
Gleich, auf welche Art du dies Besondere erkennen wirst, Quentin, so sei auch gewiss, dass nicht immer alles ist, wie es zu sein scheint.
Du musst durch Dinge hindurchsehen, musst heraushören lernen, wann die Lüge im Raum steht, oder aber die Wahrheit gesagt wird.
Ich wünsche mir, dass dir dies gelingen wird. Dass du erkennen wirst, wer du bist, und welche Gabe dir in die Wiege gelegt worden ist, auch wenn deine Mom dies immer leugnete und vor der Wahrheit die Augen verschloss.
Viel Glück, Quentin, sehr viel Glück, und Einsicht, auf deinem neuen Lebensweg.
In Liebe
Tante Evelyn
4 - Cemetery Car
Quentin und Kim schauten sich überrascht an.
»Schatz, wie war deine Tante, Großtante? Sie schreibt etwas, nun, wie soll ich sagen …? Etwas eigenartig? Irgendwie geheimnisvoll. Findest du nicht auch?«
Quentin starrte wortlos auf den Brief in seiner Hand.
Er stand da, als hätte ihn das schlechte Gewissen in Person ergriffen.
Auch wenn er sich immer noch nicht an Tante Evelyn, wie er sie immer genannt hatte, erinnern konnte, so wusste er doch, dass es seine Mutter war, die nicht gewollt hatte, dass er sie weiterhin besuchen kam. Und so war er, von heute auf morgen, seiner Großtante ferngeblieben. Kurz danach waren seine Eltern in eine andere Stadt, viele Meilen entfernt, gezogen, so dass er von daher schon gar keine Möglichkeit mehr gehabt hatte, sie zu besuchen, selbst, wenn er sich dem Verbot seiner Mutter, hätte, widersetzt haben wollen.
»Nun ja, sie ist alt gewesen. Vielleicht auch einsam«, murmelte er, geistesabwesend.
»Danach, mein Lieber, hört sich das aber, meiner Meinung nach, kein bisschen an. Ich meine, dass sie gerne die Zeit zurückgedreht hätte. Doch darum geht’s gar nicht. Warum, Quentin, schreibt sie so geheimnisumwoben? Gibt es ein Geheimnis? In deiner Familie?«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß auch gar nicht mehr, wie sie war. Ich kann sie selbst in meiner Erinnerung nicht wiederfinden. Nur ihr Name klingt in mir, wie ein Echo wider. Aber auch erst, seit der Brief gekommen ist.«
»So lange hast du sie nicht mehr gesehen?« Ihr Ton klang mitfühlend, aber auch ein wenig traurig.
Vergessen war der Streit um den Leichenwagen.
Die Traurigkeit des Lebens, das Endgültige, die Vergänglichkeit des Daseins, standen im Raum.
Kim fühlte eine Traurigkeit in sich aufkommen, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte.
»Schatz, wir haben ein Haus geerbt. Unser Umzugsproblem hat sich, dank Tante Evelyn, von jetzt auf nachher gelöst. Was hältst du davon, wenn wir packen und gleich dorthin fahren?«, schlug Quentin, im Anflug von Euphorie, vor.
»Weißt du überhaupt, wo das Haus liegt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, zu lange her.« Nachdenklich sah er zu ihr herüber. »Aber der Anwalt meiner Großtante wird es wissen. Wir müssen sowieso nochmals bei ihm vorbei, denn ich muss dort einige Schriftstücke unterschreiben. Die übliche Bürokratie, eben.«
»Klar, du tust gerade so, als würdest du solche Dinge jeden Tag machen.« Kim umarmte ihn. Vorbei war ihre ablehnende Haltung, vergessen ihre Starrhalsigkeit des vergangenen Abends.
Vergessen, für den Augenblick, der verhasste Leichenwagen.
Derzeit zählte nur die Möglichkeit, dass sich ihr Umzugsproblem, mit etwas Glück, von einer Sekunde zur anderen, gelöst hatte.
Eine Stunde später machten sie sich auf den Weg und fuhren zum Anwalt von Quentins verstorbener Großtante.
Bevor Kim jedoch in den Leichenwagen einstieg, nahm sie ihr billigstes Parfüm und sprühte damit den Innenraum des Wagens aus. »Dass der Geruch von Cemetery Car auch ganz und gar verschwindet«, sagte sie, und ihre Augen lachten ein ganz klein wenig mit ihren Worten mit.
»Cemetery Car?«, wunderte sich Quentin. Gab sie dem alten Leichenwagen, den sie doch so sehr ablehnte, tatsächlich einen Namen?
»Na ja, hört sich doch vielsagender und nicht gar so grausig, wie Leichen- oder Friedhofswagen an. Oder etwa nicht?«
5 - Veränderungen
Nach zwei Stunden hatte Quentin alles unterschrieben, was es zu unterschreiben gab, und sie machten sich auf den Weg zu dem geerbten Haus.
Anwalt Reichenarm hatte ihnen eine Wegskizze aus dem Internet ausgedruckt. An dieser orientierten sie sich und fuhren in Richtung neuer Heimat.
Wie gut es doch war, dass Quentin noch einige Tage frei hatte, bis er seine Assistentenstelle an der Uni antreten musste.
Kim jedoch hatte sich für eine Woche Urlaub geben lassen. Wenn sie demnächst umzogen, würde sie ohnehin ihren Job als Kellnerin nicht mehr ausüben können. Von daher war es nicht weiter schlimm, sollte ihr kurzfristiges Urlaubsgesuch Folgen haben.
Nach ungefähr drei Stunden Fahrt konnten sie am Straßenrand die Leuchtreklame eines bekannten Burgerhäuschens erkennen.
Kim nickte, als sie Quentins fragenden Blick sah. Ja, sie hatte auch Hunger. Außerdem war es sicherlich auch besser, wenn sie zuerst noch etwas zu sich