Doris Vogt-Köhler

Gestrandet in Weimar


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Wenn Samanda vorkam und sagte: “Isch versteh das nisch, “ machte Elvira Jung nur eine leichte Kopfbewegung zum Spiegel. Samanda trat beleidigt den Rückzug an. Ihre Aufmerksamkeit verbesserte sich merklich.

      Wie mit einem Sarkophagdeckel zugeklappt wurden plötzlich die Erinnerungen an Kalaschnikow, Facebook und Lady Gaga als Lehrerin Elvira Jung über die drei endlos erscheinenden Gänge und vier Treppen vor ihrem Klassenraum stand. Es lag etwas in der Luft. Es roch irgendwie komisch. Lehrerin Elvira Jung tauchte wieder ein in die Gegenwart. Diese Schulatmosphäre glich mehr der Aura eines Beerdigungsinstitutes oder einer Biogasanlage. Hier standen holzgeschnitzten Figuren gleichend die Schüler ihrer Klasse. Hatten diese Schüler plötzlich Masken auf? Hatte es ihnen die Sprache verschlagen? Lehrerin Elvira Jung versuchte ihre Augen einzurenken wie der Therapeut ein Rückgrat. Eine schmerzliche Angelegenheit die Person betreffend. Da standen ihre Schüler abweisend, ohne von ihr Notiz zu nehmen, ohne ihren Gruß zu erwidern vor dem Klassenraum. Jeder spielte an seinem Handy herum. Lehrerin Elvira Jung schloss die Klassentür auf. Wenigstens hier funktionierte ihr Schlüssel noch. An den Lehrertisch waren zwei Schülertische geschoben. Die übrigen Tische standen an der Wand wie überschüssiges Mobiliar aufgereiht und darauf die aufgestapelten Stühle. Der jauchige, stechende Geruch im Raum erinnerte sie an eine Beschreibung der Luft einer Lazarettschwester aus dem 2. Weltkrieg: Eiter und bittere Galle. Lehrerin Elvira Jung öffnete ein Fenster, fatamorganisch flimmerte es vor ihren Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Außerhalb des Schulgeländes und daher gut einsehbar vom Schulleitungszimmer hatten sich drei Schüler ihrer Klasse positioniert. Christin, Tabea und Johannes. Sie kippte das Fenster und konstatierte, dass in dem Klasseraum während ihrer Abwesendheit die obligatorische Schuluntersuchung stattgefunden haben müsste. Es klingelte zum Stundenbeginn. Lehrerin Elvira Jung wartete noch zwei Minuten. Es tat sich nichts. Sie öffnete die Klassenraumtür und sagte in einem gespielt höflichen Ton zu den jetzt in kleineren Gruppen stehenden Schülern:

      „Kommt rein!“

      Nichts. Keine Regung bei den Schülern. Sie bewachten immer noch mit ihren Handys die große Welt, schrieben diese fehlerhaften Mitteilungen an flüchtige Bekannte und bekamen ebensolche nichtssagende Sprüche zurück: hastenochnekippeforme? (Hast du noch eine Kippe für mich). Warum auch die Sprach App nutzen, die Kumpels waren doch der deutschen Sprache mächtig wie sie selbst. Sie waren schließlich in der Schule. In einem festen Gefüge, in dem sie das Sagen haben wollten wie auf ihrem Handy.

      Innerlich führte Lehrerin Elvira Jung Wortgefechte, was sie noch zu den Schülern sagen könnte, wie: Klärt mich auf, bin ich unsichtbar geworden? Warum lasst ihr mich hier stehen wie Minchen Doof? Oder um die Schüler herumgehen und suchend fragen: Von einem Schülerstreik habe ich nichts gehört und gesehen? Hebt das Transparent höher! Inspizierend ging Lehrerin Elvira Jung im Zickzack um die Schülergruppen herum und schaute rechts in den Klassenraum. Er war unverschlossen und leer und dann links in den Klassenraum. Dort stand die junge Lehrerin Frau Kaspers vor ihrer Klasse an der Tafel und schüttelte bei dem Anblick von Elvira Jung kaum merklich mit dem Kopf. Elvira Jung kannte sich bestens in punkto Körpersprache aus. Die Körpersprache offenbarte ihr das geheimnisvolle Verhalten der Schüler. Fragen erübrigten sich oft. Besonders die Augen faszinierten sie immer wieder. Diese Lehrerin schloss kurz die Augenlider, um sie dann abweisend kläffend wieder zu öffnen. Fazit: Sie wollte nichts mit ihr zu tun haben. Direkt der Tür gegenüber saß in der ersten Reihe ein Mädchen. Dieses Mädchen kannte sie von ihren Hofaufsichten. Immer hatte es etwas zu melden: Zwei Schüler haben das Schulgelände verlassen. Da hinten wird geraucht. Kommen Sie schnell. Zwei Schüler wollen sich prügeln. Das Mädchen schaute sie freundlich an und sagte:

      „Wir petzen nicht.“

      Lehrerin Elvira Jungs Kinderreim, den sie ihr wie aus einem Souffleurkasten damals zuhauchte: Petze, Petze ging in den Laden, wollt für einen Groschen Petze haben. Petze, Petze gab es nicht. Petze, Petze ärgerte sich, hatte wohl Spuren in ihrem Gehirn hinterlassen.

      Auf dem Rückweg zu ihrem Klassenraum fiel ihr der kahlgeschorene Kopf von Basti auf. Die Schüler streichelten auf ihm herum. Automatisch änderte ihr vorderer Gehirnlappen den für Sebastian Meyer abgespeicherten Dateinamen von Pinwand in Glatzkopf um. In der Mitte wie immer präsentierte sich alle übertreffend Samanda Aurelli alias Lady Gaga. Sie fummelte über ihr weit gedehntes Dekollete an ihrem vermutlich neuen Push - BH herum. Idyllische Verträumtheit. Etwas abseits stand wie immer Tina Marie. Ihre Mutter war einmal Lehramtsanwärterin bei Elvira Jung gewesen. Sie fragte Tina Marie mit den Augen, was denn los sei. Tina Marie antwortete laut:

      „Wir haben keinen Bock.“

      Vorahnungen hatte Lehrerin Elvira Jung schon gehabt. Die Schließanlage der Schule war neu. Ihr Lehrerzimmerschlüssel passte nicht mehr, und die jugendliche Stimme einer neuen Sekretärin hatte sie stutzig werden lassen, als sie sich nach ihrer Krankheit zurückmeldete. Ihr Klassenbuch lag nicht im Fach und war auch nicht auf dem großen Tisch im Lehrerzimmer auffindbar.

      Die zwei vorangegangenen Kunststunden in der 5a hatten diese verworrenen Empfindungen verdrängt. Gefühle wollte sie wecken. Frühlingsgefühle nach diesem langen Winter, der im November mit viel Schnee begonnen hatte und Mitte Februar immer noch Schneemassen ablegte. Sie hatte 24 kleine verschiedenfarbige Hornveilchen aus der Großverpackung umgetopft und jedes Töpfchen noch einmal in durchsichtige Folie gewickelt. Vorbereitungen bereiteten ihr immer den meisten Spaß. Keine ausgetretenen Wege nutzen, sondern Spuren zu Lichtungen aufzeigen. Das war ihre Erfüllung als Lehrerin. Deshalb war sie so glücklich in ihrem Beruf. Bei der Verkündung und den erklärenden Ausführungen des eher nüchtern klingenden Stundenziels: Wir malen heute Blumenkörbchen mit Hornveilchen saßen noch alle Schüler geordnet in ihren Stuhlreihen. Sie durften dann aber ihre Plätze wechseln. Die Motivationen waren unterschiedlich. Vorherrschend blieb das Motiv: Wer hat einen gebrauchsfähigen Farbkasten? Neben den kann ich mich setzen.

      Großes Gerammle schon beim Suchen der Zeichenmappen. Wie hatte sich Lehrerin Elvira Jung danach gesehnt, Kinder voller Tatendrang zu sehen. Unnachahmlich diese Bilder. Ein anderes Bild erschreckte sie: Die Zeichenmappen quollen fast über von ausgemalten Blättern. Keine einzige kreative Schöpfung darunter, sondern kopierte Ausmalblätter, so wie es Vertretungen halt praktizieren. Vertretungslehrer mit ganz anderen Fachausbildungen, Kunst konnte schließlich jeder unterrichten, dazu gehörte nicht viel. Meistens musste die Klassenlehrerin für solche Vertretungen herhalten, und die nutzte die Stunden, um längst überfällige Arbeiten zu erledigen. Verständlich. Beim Ausmalen waren die Schüler beschäftigt und ruhig.

      Die Schüler durften sich ein Hornveilchen nehmen und es betrachten. Schritt für Schritt zum Ziel hatte Lehrerin Elvira Jung ihnen seit Schuljahresbeginn beigebracht und eindeutig mit dem Vergleich belegt:

      „Wenn jemand sich ein Auto kauft, der überhaupt noch nie selbst ein Auto gelenkt hat, und gleich losfahren will, kommt nicht weit. Er muss erst eine Fahrschule besuchen und auf die Anweisungen des Fahrlehrers hören. So ist das auch, wenn man ein Bild malen will. Zuerst macht jeder seine Vorüberlegungen. Will ich nur ein Körbchen mit Hornveilchen malen oder noch meine Katze dazu, die auch ganz neugierig an den Blümchen schnuppern möchte oder einen erwachten Marienkäfer, der versucht, am Körbchen hochzuklettern?“

      Die Schüler hatten herrliche Ideen, was sie noch alles dazu malen könnten. Entzückt betrachteten sie die kleinen Gesichter der Hornveilchen. Als Vorübung waren wenigstens zwei Hornveilchen auf einfachen Zeichenkarton zu malen in zwei verschiedenen Farben etwa Gelb oder Violett und gemischt mit immer etwas Schwarz und Weiß. Dann die Strichgesichter. Die kleinen Töpfchen wiegend fragten einige Schüler:

      „Können wir die behalten?“

      „Gerne“, antwortete Lehrerin Elvira Jung.

      „Aber ihr müsst sie aus der Folie herausnehmen und gießen. Es sind kleine Lebewesen.“

      Zum Schluss hatte sie noch zehn Hornveilchen in ihrem Korb.

      „Singen wir heute kein Lied?“

      Es war ein Junge, der die Frage stellte.

      „Aber natürlich, ich hätte es fast vergessen.“

      Elvira Jung