Doris Vogt-Köhler

Gestrandet in Weimar


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      Keuchend ließ sich Herr Engel auf dem neuen Bürostuhl von IKEA nieder. Die Höhe war nicht richtig eingestellt. Er musste wieder aufstehen, den Hebel suchen, und das alles ärgerte ihn. Zutiefst unglücklich starrte er auf das beigefügte Schreiben seines Anwaltes bezüglich seiner Anzeige die ehemalige Schulleiterin seiner Pflegetochter Christin, Frau von Hofgarten, betreffend. Die Schulleiterin klang in ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Vorfall, den er zur Anzeige gebracht hatte, sachlich und durchaus ehrlich. Zur Genüge kannte er selbst diese Auseinandersetzungen mit den Pflegekindern.

      Als ehemaliger Bauingenieur wurde er nach der Wende plötzlich nicht mehr gebraucht. Seine Firma aufgelöst. Blühende Landschaften hatte man ihnen versprochen. Aber davon konnte keiner leben, wenn er kein Geld besaß. Aufbruch. Seine Frau, eine Grundschullehrerin, sehnte sich danach, die Keime für ein selbstbestimmendes Handeln und Verwirklichung ihrer Ideale zu blühenden Pflanzen gedeihen zu lassen. Sie quittierte den Schuldienst und ließ sich als Leiterin eines Kinderhauses in den alten Bundesländern ausbilden. Frei und selbstständig wollte auch er arbeiten. Ein Kinderhaus bauen. Nie hätte Herr Engel gedacht, dass so etwas gar nicht funktionieren könnte. Immer war man abhängig von irgendwelchen Behörden, Instutionen und Ämtern und natürlich von dem Wohlwollen oder der Missgunst der Mitarbeiter selbiger, die es gelernt hatten, aus Gesetzen und Verfügungen, das für sie Günstigste herauszuangeln. Im Klartext: keine Verantwortung zu übernehmen, Fehler nur bei anderen zu suchen, und das dumme Fußvolk brauchte nicht alles zu wissen.

      Dieses Schreiben der einst von ihm hochgeschätzten Schulleiterin Frau von Hofgarten war wie eine gesetzte Kanüle, um jederzeit Blut von ihm und seiner Frau abzuzapfen. Sie schrieb: Christin Engel betrat meinen Schulleitungsraum in spürbarer Abwehr. Sie setzte sich entsprechend meiner Aufforderung mir gegenüber. Dazwischen stand der Schreibtisch. Rechts vom Schreibtisch auf einem Stuhl lag meine Handtasche. Schon bei meiner ersten Frage:“ Weißt du, warum ich dich hierher bestellt habe?“ wanderten ihre Blicke nur zu diesem Stuhl mit der Handtasche, was mir erst im Nachhinein richtig bewusst wurde. Wütend stritt sie ab, je im Aufenthaltsraum der Sportlehrer gewesen zu sein oder gar Geld aus ihren Taschen genommen zu haben. Da müsste ich andere fragen wie zum Beispiel Samanda Aurelli oder Külüm aus der Parallelklasse. Beide hätte sie nacheinander aus dem Sportlehrerzimmer kommen sehen. Sie gebärdete sich wie ein zutiefst verletztes Mädchen.

       In diesem Augenblick informierte mich die Sekretärin Frau Malsch in der Tür stehend, dass sich ein Schüler in der Turnhalle verletzt hätte. Daraufhin verließ ich kurz mein Zimmer. Als ich es wieder betrat, sah ich, wie Christin Engel mein geöffnetes Portemonnaie in der linken Hand hielt und in der rechten meinen 50-Euro-Schein, den ich am Morgen eingesteckt hatte. Schnell ließ Christin Engel den Schein in der rechten Tasche ihrer Jeanshose verschwinden. Die Geldbörse warf sie auf den Schreibtisch. „Nun hast du ja, was du sehen wolltest, aber es ist mein Geld, was du an mir verdienst!“ rief sie ungehörig frech. „Christin, lege sofort das Geld auf den Tisch!“ Mehr brachte ich nicht heraus. Christin machte höhnisch “Pah“ und lief in Richtung Tür. Von hinten packte ich sie am rechten Arm und sagte: „So nicht, mein Mädchen!“ Christin Engel schlug mir mit dem rechten Ellenbogen mehrmals vor die Brust, aber ich hielt sie fest. In diesem Moment erschien die Sekretärin Frau Malsch wieder an der Tür, weil der Unfall in der Turnhalle und die Anforderung des Notarztes meiner Zustimmung bedurften. Christin Engel spuckte Frau Malsch ohne jeglichen Grund ins Gesicht. Das trieb mich zum Äußersten, was ich nachweislich noch nie während meiner 37jährigen Dienstzeit als Pädagogin getan hatte. Ich gab Christin Engel zwei Ohrfeigen, eine links und eine rechts. Christin Engel stürmte mit den Worten: „Euch werde ich noch zeigen, was ihr davon habt. Das hast du nicht umsonst mit mir gemacht!“ aus dem Schulleitungszimmer.

       Zuerst eilte ich in die Turnhalle, um mich über den Unfall und die eingeleiteten Maßnahmen zu informieren. Wieder im Büro rief ich die Klinik an, in die der Junge gebracht worden war, und dann die Mutter des beim Fußballspielen am Kopf verletzten Schülers. Es dauerte einige Zeit, bis ich die Mutter beruhigen konnte, dass es nichts Ernstes wäre mit der Verletzung ihres Sohnes, wir aber auf Nummer Sicher gehen müssten. Sofort nach dem Telefonat ging ich zum Klassenraum der 8a. Die Vertretungslehrerin für Deutsch, Frau Petzold, erklärte mir vor der Tür, dass Christin Engel aufgelöst und mit hochrotem Kopf in die Klasse gekommen wäre, ihre Schulsachen zusammengepackt und gerufen hätte:“ Der werde ich es zeigen! Die Alte hat mich geschlagen. Jetzt muss ich zum Arzt. Meine Zähne hat die mir rausgeschlagen!“

      Herr Engel atmete mehrmals tief durch. Die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er steckte das Schreiben mit zittrigen Fingern zurück in den Umschlag. Ach hätte er doch nicht so voreilig gehandelt und alles erst einmal genau überprüft. Doch Christin, die er und seine Frau seit acht Jahren betreuten und vor zwei Jahren adoptiert hatten, klang so ehrlich. Er musste ihr doch jedes Wort glauben. Vor lauter Eifer, Gerechtigkeit walten zu lassen, damit die Schulleiterin für ihre Tat schnell bestraft werden müsste, hatte er im Auftrage seiner Frau, die die Leiterin des Kinderhauses war, und nach Absprache mit dem Dachverband Kinderhaus e.V. Anzeige erstattet. Der Verein hatte ihnen dazu geraten. Körperliche Gewalt gegen Kinder in so einer eindeutigen Form von zwei Ohrfeigen müsste bestraft werden und ihnen einen Anwalt genannt.

      Der Rausch des Triumpfes war vorbei. Narkotisiert und gelähmt saß Herr Engel auf dem neuen schönen IKEA Stuhl aus Echtholz. In ihm begann erneut ein Brodeln, als er die Zeilen des Zahnarztes las.

       Christin Engel erschien am 17.12.2013 nach 14Uhr in meiner Praxis. Sie gab an, dass sie von der Schulleiterin zusammengeschlagen worden sei. Bei eingehender Untersuchung stellte ich eine leichte Verbiegung der Zahnspange fest. Ich entfernte die Zahnspange, da aufgrund ungenügender Zahnpflege eine Parodontitis entstanden war. Verletzungen im Mund- Kieferbereich konnten nicht festgestellt werden.

      Jeder Tag war ein harter Kampf um die Finanzierung des Kinderhauses. Der Kampf um die sich ausweitenden Probleme der sechs Kinder nahm nicht nur seine ganze Kraft in Anspruch, sondern mehr und mehr auch die Kraft seiner Frau. Es wurden ihnen in letzter Zeit kaum zu beherrschende Problemfälle zugeteilt. Bei der Aufnahme von Christin war das anders gewesen. Seine Frau schloss das niedliche kleine Mädchen mit den langen dunklen Haaren sofort in ihr Herz. Dank der guten Ernährung wuchs Christin atemberaubend schnell in die Höhe. Das Fallenlassen eines Tellers, wenn der Tisch abzuräumen war, wurde auf das schnelle Wachstum ihrer Knochen geschoben. Zeigte Christin nicht schon da Aggressionen, wenn man etwas von ihr forderte, das ihr nicht gefiel? Herr Engel hielt sich einen in seinem Inneren fest angeschraubten Rückspiegel vor die Augen. Mit welcher Wärme hatte seine Frau dieses Mädchen stets umgeben und seit geraumer Zeit nur Zurückweisungen erfahren? Christin stellte nur Forderungen. Fünfzig Euro Taschengeld im Monat. Ihr Aufenthalt im Kinderhaus würde ja auch mindestens eintausend Euro allen einbringen.

      „Was denkst du? Das Geld fällt vom Himmel? Woher kommt deiner Meinung nach das Geld, was wir an dir verdienen?“ fragte seine Frau.

      „Na vom Staat, das haben wir in der Schule gelernt. Da hast du nicht richtig aufgepasst bei deinen Weiterbildungen. Damals. Weil du ja in der DDR groß geworden bist und kannst das nicht wissen.“ schleuderte Christin ihr entgegen.

      Die Worte seiner Frau: Wir bedeuten ihr nichts. Sie brüllten jetzt in seinem Gehörgang bis zum Gehirn. Erinnerungen durchdrangen ihn. Erinnerungen, die gar nicht so weit entfernt waren. Er selbst hatte seiner Frau vorgeschlagen, nur mit Christin allein zwischen Weihnachten und Neujahr drei Tage in Potsdam Babelsberg zu verbringen. Der Filmpark mit seinen Aktionsprogrammen würde seine Frau zerstreuen und die Annehmlichkeiten eines Vier-Sterne- Hotels sie von den täglichen Pflichten der Erziehungspläne, der Dienstpläne für die Angestellten, der Finanzkalkulationen im Kinderhaus und das ganze Drum und Dran entlasten. Und Christin könnte ihrer Adoptivmutter wieder die Zuneigung und Liebe wie früher zeigen. Es war der reinste Pseudotrip gewesen. Seine Frau hatte ihm berichtet:

      Am ersten Tag lief alles wunschgemäß. Frau Engel traf eine jüngere Mutter mit einer 13jährigen und einer 8jährigen Tochter, die das gleiche Angebot von Sparreisen gebucht hatten. Sie verbrachten mit den Kindern den Nachmittag im Filmpark und hatten viel Spaß. Nach dem Abendessen setzten sich die beiden Frauen an die Bar und gaben den Kindern zwei Stunden Freizeit. Es war noch nicht eine Stunde um, als