Doris Vogt-Köhler

Gestrandet in Weimar


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ichs noch einmal: schön ist die Jugendzeit, schön ist die Jugendzeit, sie kommt nicht mehr. Was hatte da ihr Gehirn bereits vorbestimmt bei der Auswahl des Volksliedes. Jugendzeit vorbei. Verwelkt. Schulende. Die Schüler sangen mit Freude, ihnen fehlte die Beziehung zum Inhalt.

      Es hätten eigentlich nur eine Kunststunde laut Lehrplan sein sollen und eine Musikstunde. Aber es gab keine Musiklehrerin für diese andere Stunde. Die Schüler hatten in der Grundschule eine hervorragende Klassenlehrerin, die auch Musiklehrerin war. Deshalb sangen sie so gerne. Eigentlich waren es nur neun Schüler aus der alten Grundschulklasse, die übrigen vierzehn wechselten auf verschiedene Gymnasien. Es kamen elf Schüler aus dem Einzugsbereich der Regelschule hinzu. Anfangs fühlten die neuen Schüler sich beim Singen wie Ausgestoßene. Das wollten sie natürlich nicht sein. Sie konnten aber keine gemeinsame Ablehnungsgruppe also Gegenstimme bilden, da sie sich erst kennenlernen mussten. Also sangen sie eifrig mit.

      Jetzt saß Lehrerin Elvira Jung fast schon außer sich geraten, aber deutlich unterfibriert, was jede Einzelfaser ihres Nervengewebes betraf, in ihrer Klasse am Lehrertisch. Sollte sie den Wortknüppel schwingen und die Schüler damit in den Klassenraum prügeln? Zuerst dachte Lehrerin Elvira Jung, es wären ihre Tränen, die sich aus ihren Augen drängelten und sich auf der Tischplatte ausbreiteten. Dann sah sie das Rot. Es tropfte aus ihrer Nase. Erst hellrot, ein kleiner Bach, dann mohnrot wie kleine Knospen und schließlich dunkel strähnig wie ein langes Purpurgewand. Auge zu Auge, wie rote Rubine schauten die Bluttropfen Elvira Jung an, um sich zu einem kleinen Strom von Tröpfchen zu Tröpfchen zu vereinigen. Feuchtfrisch füllten sie schon die Tischplatte aus, um Neues zu erkunden, was tiefer, unter der Tischplatte lag. Blut, das einem höheren Befehl und nicht ihrem folgte, einfach so ihren Körper zu verlassen. Sie wusste, dieser Schmerz des Nichtbeachtens, des völligen Ignorierens seitens ihrer Schüler hatte die Blutschleusen geöffnet. War sie nicht habgierig, habsüchtig gewesen? Nur sie wäre eine der besten Lehrerinnen mit ihren Einfällen und Erfahrungen, die die Schüler bräuchten, neidisch auf die jüngeren Kollegen und Kolleginnen. Eigentlich nicht, gönnte Elvira Jung sich die Rechtfertigung. Jemand öffnete von außen die Tür zum Klassenraum. Aber niemand trat ein. Bin ich noch normal? dachte Elvira Jung. Dieses seltsame Gebaren der Schüler musste etwas mit ihr zu tun haben. Sie wusste nur nicht was.

      Sie griff in ihre prall gefüllte Lehrertasche und suchte nach den Aloe Vera Tüchern und den Nasentampons, um das Nasenbluten zu stillen. Als alternde Lehrerin hatte sie eine ausgesprochene Kinderkrankheit bekommen trotz regelmäßiger Dreifachimpfung, die auch Diphtherie mit einbezog. Die Schleimhäute der Mandeln, des Rachens, des Kehlkopfes, der Luftröhre, der Nase hatten diese Bakterien besiedelt und sich zusammengeklumpt, dass ein Schlucken und normales Atmen kaum möglich war. Mit ihrer genialen Vermehrungstechnik durch Querteilung oder Sprossung, wobei jede Zelle ein selbstständiges Individuum blieb, hatten diese Bakterien Giftpfeile bis in das Herz von Elvira Jung geschossen. Drei Wochen Krankenhaus und drei Wochen Kur hatten sie befreit von diesen Schleimhautspinnen, wie sie Elvira Jung nannte, denn von Bakterien hatte sie eine andere Vorstellung. Diese kleinen Organismen in den gepflegten Gestaltsformen, wie kugelig, stäbchenförmig oder schraubig, meist unbeweglich oder nur mit kleinen Geiseln schnelle Schwimmbewegungen ausführend, riefen in ihr das Bild von genießbaren, gesunden Früchten hervor. Frisch mit Fingern zu erhaschen von einem Strauch oder Baum. Die Behandlung bestand vornehmlich durch Verabreichung von Antibiotika sowie Stärkung des Immunsystems. Einfalt und Zuversicht. Ehrfurchtsvoll hatte sie den Ärzten vertraut und sich noch die Polypen und kleine knorpelige Gebilde aus der Nase operieren lassen. Dazwischen lagen die Weihnachtsferien. Also acht Wochen hatte sie keinen Kontakt zur Schule. Während der ihr völlig überraschend genehmigten Kur setzte sich Elvira Jung ausgiebig mit den schriftlichen Arbeiten jedes einzelnen Schülers auseinander und arbeitete für jeden einen Lernplan im Fache Deutsch aus. Wozu sollte man die Groß- und Kleinschreibung beherrschen? Oder gar so aussterbende Fossilien wie den Genitiv nach unverständlichen Präpositionen wie wegen? Die SMS: kann nich komme wegen där alten die wolln heute zu Oma und ich muss mit, wurde doch prompt beantwortet mit: hey alter alles klar b. m. (bis morgen). Alles das war doch verständlich! Kommas sind nutzloses Beiwerk. Würde man sie setzen, gälte man gleich als Streber als einer, der die Sprache der Jugendlichen anpöbelt, als wabernder alter Pauker.

      Lehrerin Elvira Jung hatte sich viel Mühe gegeben in ihren Überlegungen, wie sie mit den Schülern auf einem Dampfer, den beide Lehrer und Schüler gemeinsam steuerten, an den protzigen Denkmalen der Literatur vorbeischaufeln könnten, um die Strahlenenergie der deutschen Sprache einzufangen mit Vergleichen aus der ungeheueren Wucht der Sprache in Goethes Faust oder Schillers Räubern. Der Osterspaziergang von Goethe und Die Glocke von Schiller sollten ihre Sinne reizen, sich dort fest etablieren, um bei entsprechenden Gelegenheiten stets textsicher abrufbar zu sein. Jeden Tag gingen ihre Schüler an den Wohnhäusern, an den Denkmälern dieser und anderer Dichter und Denker in Weimar vorbei. Dichten verlangte sie nicht von ihren Schülern, aber denken. Denken konnte im Moment Lehrerin Elvira Jung auch nicht mehr. Es reichte nur, um Überlegungen anzustellen. Vielleicht befürchteten die Schüler, sich bei ihr anzustecken? Das konnte nicht sein, denn auf dem Krankenschein hatte Grippaler Infekt gestanden. Außerdem wurden mittels in Medikamententunke getauchter Reisigbesen alle Körperorgane desinfiziert. In diesem kleinen Retortenvorort Taubach, wo sie mit ihrem Mann in einem umfriedeten Häusergürtel mit ländlicher Idylle lebte, hatte sie außer rituellen Grußformeln mit niemanden ein Wort gewechselt. Aufsprießenden Gewächsen gleich türmten sich zur Anhöhe hinauf prächtigere Fenstertürme wie in den Reiseprospekten von Garmisch Patenkirchen oder Baden Baden. Bauwerke, bei deren Gedanken an den Energieverbrauch ihr schon ein leichter Schauer den Rücken hinunterlief. Die Bewohner kannte Elvira Jung nicht, nur deren Autos.

      Die Gewissheit, das Verhalten der Schüler musste etwas mit ihr zu tun haben, drückte schmerzhaft wie ein Hühnerauge. Stille. Lehrerin Elvira Jung fühlte sich plötzlich alt. Ein ausgelesenes, weggeworfenes Buch. Dabei hatte sie so lebendig begonnen. Fünf Kilo leichter, fast schon magersüchtig, die Haare halblang frisiert. Sie war bei der Kosmetikerin gewesen und hatte sich neu eingekleidet mit Stiefelchen, engen Jeans, Rüschchenbluse. Langsam zog sie die Tampons aus der Nase und stellte beglückt fest, dass das Nasenbluten aufgehört hatte. Draußen wurde es zunehmend lauter. Magisch angezogen von dem Gedanken, jetzt den Klassenraum verlassen zu müssen, packte sie ihre Tasche und schloss langsam von außen die Klassentür ab. Lehrerin Elvira Jung spürte die Blicke der Schüler auf ihrem Rücken. Figuren, dachte sie, es sind alles nur holzgeschnitzte Figuren. Schattenrisse und Gebilde, denen ich mal Selbstfindung, Lerneifer, Faktenwissen, Kreativität beizubringen versuchte. Hirngespinste von mir. Lehrerin Elvira Jung sagte beiläufig zu der sich jetzt langweilenden Schülergruppe:

      „Geht Nachhause. Ich habe auch keinen Bock mehr.“

      Mit diesen Worten hatte sie ihre Schüler endgültig losgelassen, sich von ihnen getrennt. Die Schüler spürten den Schatten der Lehrerin, der immer schwächer wurde. Das Licht hatte ihre Lehrerin selbst ausgeschaltet. Noch gab es Hoffnung. Wollten sie nicht nur ein bisschen das Spiel Blindekuh betreiben? Ein Spielchen eben. Ertasten, körperliche Nähe. Lachen, wenn es der Falsche war. Sich eben amüsieren.

      Endlich geschah etwas.

      „Was hat die eben gesagt?“

      Die meisten Schüler hatten ihre Lehrerin Elvira Jung nicht verstanden und fühlten sich nun wie im Dunkeln herumtastende Zauberlehrlinge.

      „Wir sollen Nachhause gehen“, rief die immer noch abseits stehende Tina Marie, deren Minute der Aufmerksamkeit endlich gekommen war. Dann gackerte sie der Lehrerin Elvira Jung wie das größte Arschloch aller Hühner hinterher:

      „Sie hat keinen Bock mehr!“

      Die Schüler fühlten sich ihrer Macht beraubt. Sie wollten doch bestimmen und nicht die Alte da. Die neue hübsche Schulleiterin hatte zwar nicht Frau Jungs Namen genannt, aber alles, was sie über die alten, nach DDR Drill ausgebildeten Lehrer vortrug, traf auf Frau Jung zu. Auch wenn ihre Lehrerin herumulkte, ihr entging nichts. Sie war das Machtzentrum der Klasse. Das spürten die Schüler einfach. Sie spürten auch, dass ihre Macht nur vor der Klassentür lag. Drinnen würde es anders aussehen. Sie wollten ihre Macht festhalten, deshalb betraten sie nicht den Klassenraum.