J. U. Gowski

Der König ist tot, lang lebe der König


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der Zuzug der Ausländer in ihrem Viertel gestoppt werden konnte. Vorher waren sie nur zu viert gewesen. Eine nette Skatrunde, die sich im Western Saloon, der sich neben dem Fontane-Haus befand, kennengelernt hatte. Das war fünf Jahre her. Aber bei den unweigerlich aufkommenden Diskussionen über Merkels Empfangskultur merkten sie, dass sie mehr vereinte als nur das Skatspiel. Ihre kleine Verschwörergruppe wuchs auf sieben Leute an und man beschloss: Es sollten bald Taten folgen. Er war nicht mehr weit weg von der Kreuzung. Die Ampel zeigte noch grün. Er drückte auf die Tube und raste auf sie zu, hoffte, es noch zu schaffen. Als sie auf rot schaltete, war er keine drei Meter mehr entfernt. Da spürte er einen Schlag gegen die Lenksäule, wunderte sich. Er war doch nirgends gegen gestoßen. Er wollte abbremsen. Die Bremse funktionierte nicht. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, lähmte ihn. Er raste auf die Kreuzung zu. Dann auf die Straße. In der Mitte der Fahrbahn erfasste ihn ein Mercedes mit goldenen Radkappen, der gerade den 124er Bus überholte und nicht mehr ausweichen konnte. Rüdiger Funke wurde auf die andere Straßenseite geschleudert und dort von einem Laster, der Weihnachtsbäume transportierte, überrollt.

      Nicky Tesboč hatte es vom Dach aus beobachtet und war zufrieden mit dem Resultat. Langsam packte Tesboč das Gewehr in den Koffer, sammelte die Patrone ein. Das ganze verschwand in dem Rucksack. Von weitem waren die Sirenen der Notarztfahrzeuge zu hören. Tesboč sah sich noch einmal um. Nickte zufrieden. Keine Spuren zu sehen. Beim Treppenhinunterlaufen stellte Nicky Tesboč fest, einen Menschen zu töten war gar nicht so schwer. Das Gewissen regte sich jedenfalls nicht. Es hatte etwas Gottgleiches. Leben geben, Leben nehmen. Und irgendwie hatte Nicky Tesboč das Gefühl, seit langer Zeit wieder glücklich zu sein.

       Dienstag 19.12.

      

      4.

      Es war ruhig. Eine friedliche Zeit. So sollte es Weihnachten immer sein, dachte S.H. Koslowski. Keiner der seinen Ehepartner im Streit tötete. Kein Enkel, der seine Oma für Hundert Euro umbrachte. Kein Mann, der den lärmenden Nachbarn mit einem Hammer ruhigstellte.

      Aber Chefermittler Salvatore Hieronymus Koslowski traute dem Frieden nicht. Die Ruhe machte ihn nervös, davon abgesehen, dass ihn Weihnachten grundsätzlich nervte. Er konnte es nie genießen wie die anderen Kollegen, die die kostbare freie Zeit für ihre Weihnachtseinkäufe vergeudeten. Das war nichts für Koslowski. Schon der Gedanke an die überfüllten Geschäfte mit der aufdringlich dudelnden Weihnachtsmusik ließ ihn noch griesgrämiger werden. Ein beliebtes Spiel bei der 2. Mordkommission war: Heute schon geWAHMt? Gewonnen hatte der, der als erster »Last Christmas« von WHAM hörte, dass unweigerlich irgendwann in den Kaufhäusern erklang und bei jedem Radiosender. Koslowski besorgte Weihnachtsgeschenke, wenn er denn welche kaufte, auf den letzten Drücker. Er hatte also noch Zeit. Eine Schallplatte für seinen Nachbarn, den alten Professor hatte er schon bestellt, musste sie nur noch abholen. Für Dani, wie er die Frau, die sein Leben bereicherte, nannte, weil ihm ihr richtiger Vorname nicht gefiel, war ihm noch nichts eingefallen.

      Koslowski war klar, früher oder später würde etwas passieren. Es waren nur noch sechs Tage bis Weihnachten. Ihm war auch klar, je später etwas passierte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass es für die Kollegen ein beschauliches Fest mit Familie geben würde. Ihn als Weihnachtsmuffel störte es weniger. Nur für sein Team tat es ihm leid. Die Wahrscheinlichkeit, einen Fall in ein paar Stunden zu lösen, war relativ gering. Es sei denn, das Glück half nach. So etwas hatte er aber erst einmal in seiner über zwanzigjährigen Karriere erlebt. Da hatte der Täter seinen Ausweis neben der Leiche verloren. Sie mussten ihn nur aus seiner Stammkneipe, der »Stumpfen Ecke« einsammeln.

      Koslowski wollte den Arbeitstag ruhig angehen und hatte zur Einstimmung erstmal den Sportteil der Zeitung gelesen. Sein Verein, der 1. FC Union Berlin hatte am Freitag wieder mal verloren. Zu Hause. Ein unglückliches 1:2. Er hatte schon am Anfang der Saison nicht an einen Aufstieg mit diesem Kader geglaubt. Im Gegensatz zu einigen anderen, einschließlich Vereinspräsident und Trainer. Jetzt gab ihm die Presse recht. Für Koslowski wäre der Aufstieg eindeutig zu früh gekommen und seine Eisernen wären nur zum Kanonenfutter für die etablierten Vereine der 1. Bundesliga verkommen. Er war seit er zehn Jahre alt war, Fan der Eisernen. Aus einem ganz profanen Grund: Die zwei großmäuligsten Typen in seiner Klasse, die ihm und seinem Freund R.R. so richtig auf die Nüsse gingen, waren erfolgsverwöhnte BFC Fans gewesen. Mit vierzehn war er dann das erste Mal im Stadion an der Alten Försterei gewesen. Am Anfang war R.R. öfter mit zu den Heimspielen gekommenen. Dann verlor er das Interesse und fing an Judo zu trainieren. Koslowski blieb den Eisernen treu.

      Nach der Zeitungslektüre hatte er sich über alte Akten hergemacht, die er sich aus dem Archiv geholt hatte. Es gab nicht viele ungelöste, kalte Fälle seines Teams, aber es gab sie. Jetzt war es mittlerweile 17:00 Uhr. Frederieke Bloom war gegen 15:00 Uhr gegangen, um ihren Sohn Michel aus der Kita abzuholen. Ihr Freund, der Vater des Kindes, Matteo Di Stefano war mit Ben Lorenz unterwegs, um eine Zeugin zu befragen. Es ging um einen alten Fall. Koslowski hatte sie darum gebeten. Die anderen Kollegen, Tom Meyerbrinck, Frank Grabowski, Marcus Kempa und Ibrahim Bulut saßen an dem großen Tisch im Besprechungsraum. In der Ecke stand der Weihnachtsbaum, den Frederieke organisiert hatte. Er war geschmückt mit kleinen Figuren aus Filz und Stoff, die Elche und Rehe darstellten. Skurrilen Köpfen von Weihnachtsmännern und Schneemännern auf Glocken. Kleinen bemalten Bronzeglöckchen, kurz, nicht der profane deutsche Weihnachtsschmuck. Dieser etwas andere Schmuck war der Grund, warum die Tanne überhaupt erst mit dem Segen von Koslowski aufgestellt werden durfte. Die letzten Jahre hatte er sich noch erfolgreich dagegen gewehrt. Frank Grabowski hatte den Weihnachtsschmuck aus Schottland mitgebracht, ihn in einem kleinen Geschäft in Pitlochy entdeckt, das scheinbar ganzjährig nur Weihnachtsschmuck verkaufte. Gemeinsam mit Frederieke Bloom überzeugte er seinen Chef und Koslowski musste ihnen recht geben. Sie sah gut aus, die Tanne. Auf dem Tisch stand ein großes Tablett mit Lokma, türkischen Teigbällchen in Sirup. Für Bulut, den Moslem im Team, beschränkte sich das Weihnachtsfest darauf, die Kollegen mit türkischen Süßigkeiten und Backwaren zu verwöhnen. Seine Frau war eine Meisterin darin. Jeden Tag in der Weihnachtswoche eine andere frisch zubereitete süße Speise. Ob Lokma, Lokum, Tulumba oder Künefe, Kempa aß wieder mehr, als ihm gut tat. Bulut freute es. Koslowski machte sich nicht viel aus den Speisen, aß aber aus Anstand auch mal ein Stück mit. Meist verzog er sich dann kurz danach mit einem Kaffee in der Hand wieder in sein Büro, das er sich mit Meyerbrinck teilte. Das Telefon klingelte und riss ihn aus den Gedanken.

      Er nahm ab. »Koslowski«, meldete er sich.

      »Hallo Chef. Fehlanzeige«, sagte Di Stefano am anderen Ende der Leitung.

      »Schade, aber nicht zu ändern. Danke.« Er wollte schon auflegen, schob dann aber noch schnell ein »Macht Feierabend für heute« hinterher.

      »Ist gut. Ciao, bis morgen.« Di Stefano legte auf.

      Koslowski hielt noch das Telefon in der Hand, als Meyerbrinck das Büro betrat. Koslowski blickte auf und sagte: »Macht Feierabend. Sag auch den anderen Bescheid.« »Mach ich gleich, muss aber noch mal in mein Mailfach schauen. Und du? Soll ich dich dann mitnehmen?«, fragte Meyerbrinck. Koslowski zögerte leicht. Schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

      »Danke für das Angebot, aber ich bleib noch ein bisschen, les nochmal die Akten durch.« Er klopfte dabei auf den Stapel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Und vielleicht geh ich nachher noch ins Union Jack auf ein, zwei Murphys. Hab ja keinen, der auf mich wartet, außer Kater Leo. Und der wird es sich es wieder beim Nachbarn gemütlich gemacht haben.«

      »Gut. Ich sag dann gleich den Kollegen Bescheid.« Meyerbrinck setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete mit einem Klick sein Postfach. Aufgeregt klickte er die eingegangene Mail an. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Vor Freude wuselte er sich nervös durch seinen roten Haarschopf.

      Koslowski sah ihn fragend an.

      »Eine Mail auf die ich ungeduldig gewartet habe«, beantwortete Meyerbrinck Koslowskis fragenden Blick.

      »Und?« Koslowski war neugierig.

      Das Lächeln auf Meyerbrincks Gesicht wurde breiter und Koslowski ungeduldiger.